Alternativen zu freiheitsbeschränkenden Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie wegen Selbst- und Fremdgefährdung
Studienprotokoll
1. Zusammenfassung des Projekts
Es ist beabsichtigt, bei krankheitsbedingter Selbst- oder Fremdgefährdung eine weniger invasive und die Würde weniger verletzende Alternative zu den international gängigen und auch in Baden-Württemberg in psychiatrischen Kliniken jährlich ca. 10.000 Mal praktizierten Maßnahmen Fixierung (Festbinden am Bett) oder Isolierung (Einsperren in einen leeren Raum ohne Begleitung) zu entwickeln. Geplant ist die Verwendung von 30 kg schweren Kunstledersäcken, die zu Fitnesszwecken entwickelt wurden und mit einem herkömmlichen Fixiergurt am Handgelenk befestigt werden können (dabei könnten auch zwei derartige Geräte zur Anwendung kommen, in Reihe oder beidseitig). Damit sollte fremdgefährdendes Verhalten in vielen Fällen wirksam kontrolliert werden können, Bewegungsspielraum bleibt erhalten (z.B. essen) und persönliche Begleitung (1:1 Betreuung) sollte ohne Gefährdung der begleitenden Person möglich sein. Hier soll eine Pilotstudie mit gesunden professionellen Expertinnen und Experten stattfinden, die zu denkbaren Risiken befragt werden sollen. Dabei soll eine Videoaufnahme angefertigt werden, die Patientinnen und Patienten mit entsprechenden Vorerfahrungen gezeigt wird, um deren Einschätzungen einzubeziehen. Anschließend soll dann mit Hilfe der Ergebnisse eine CE-Zertifizierung durchgeführt werden, um nachfolgend klinische Studien mit Patienten durchführen zu können (nicht Teil dieses Antrags). Ziel dieser Pilotstudie sollen Machbarkeit, Sicherheit und Aspekte der Menschenwürde sein. Dazu sollen 10 in der Psychiatrie Beschäftigte, die mit der Durchführung von Zwangsmaßnahmen vertraut sind, die Situation der Immobilisierungsmaßnahme in 1:1 Betreuung durch eine Fachkraft in einem abgesonderten Raum für eine Stunde erproben. Anschließend sollen sie zu Aspekten der Machbarkeit, Sicherheit und der Menschenwürde qualitativ befragt werden. 10 Patientinnen und Patienten, die schon Fixierungsmaßnahmen erfahren haben, derzeit aber nicht in stationärer Behandlung sind, soll ein bei der Studie mit den Beschäftigten angefertigtes Video gezeigt werden und sie sollen ebenfalls qualitativ zu ihren Einschätzungen befragt werden.
2. Verantwortlichkeiten
Projektleiter/in:
Prof. Dr. Tilman Steinert, Ärztl. Direktor Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I (Weissenau)
Dr. Sophie Hirsch, Chefärztin der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie Biberach
3. Wissenschaftlicher Hintergrund
Die langjährige wissenschaftliche Beschäftigung der Antragsteller mit dem Thema ist in die federführende Erstellung der S3 Leitlinie Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen eingeflossen (1). Am Tag, an dem die Leitlinie publiziert wurde (23.7.2018), traf das Bundesverfassungsgericht eine wegweisende Entscheidung zu Fixierungen. Es stellte fest, dass eine Fixierung die eingreifendste freiheitsbeschränkende Maßnahme sei, weshalb eine 5-Punkt- und 7-Punkt-Fixierung von über 30 Minuten Dauer einer richterlichen Genehmigung durch persönliche Anhörung bedürfe (2). Daraufhin wurden 2018 alle Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetze der Länder und das (bundesweit einheitliche) Betreuungsrecht überarbeitet und angepasst. Das ausschließlich in Baden-Württemberg vorhandene Melderegister für Zwangsmaßnahmen unter Leitung des Antragstellers (3) ermöglichte es, die Auswirkungen zu evaluieren (4). Demnach wurden 2019 in baden-württembergischen psychiatrischen Kliniken 9776 richterlich genehmigte Fixierungen durchgeführt, ein erheblicher Rückgang gegenüber Vorjahren. Danach kam es in Folge der Corona-Pandemie aber wieder zu einem Anstieg (5). Das Komitee der UN zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention fordert demgegenüber ein völliges Verbot solcher Zwangsmaßnahmen (6), eine Forderung, der sich die WHO angeschlossen hat (7). Das Bundesverfassungsgericht und der deutsche Ethikrat lehnen diese Forderung aber unter ethischen Überlegungen ab (8) und halten freiheitsbeschränkende Maßnahmen in Situationen der Selbst- und Fremdgefährdung bei nicht einwilligungsfähigen Menschen grundsätzlich für legitim.
Praktisch zeigen eigene Langzeitdaten (9), dass trotz fortwährender klinischer Anstrengungen eine signifikante Reduzierung von Zwangsmaßnahmen in den letzten 15 Jahren nur im Bereich der Gerontopsychiatrie und darüber hinaus nur in mäßigem Grade durch die genannte Einführung des Richtervorbehalts für Fixierungen gelungen ist. Praktisch kommen derartige freiheitsbeschränkende Maßnahmen ganz überwiegend wegen Fremdgefährdung zur Anwendung, Selbstgefährdung kann mit heutigen Pflege- und Behandlungskonzepten ganz überwiegend anders aufgefangen werden.
Ein eigenes großes vom Innovationsfonds gefördertes RCT mit 55 psychiatrischen Kliniken in Deutschland zur Implementierung der Empfehlungen der S3 Leitlinie konnte leider auf die Anzahl durchgeführter Zwangsmaßnahmen keine positiven Effekte zeigen (bisher unpublizierte Daten). Die Aussicht auf eine Abschaffung oder sehr bedeutsame Reduktion von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie muss deshalb gegenwärtig als unrealistisch angesehen werden. Deshalb muss sich der Fokus zumindest auch auf eine möglichst menschenwürdige Gestaltung richten. Wir knüpfen damit an eigene frühere Forschung an, die seitdem auch international wenig weiterentwickelt wurde. Wir hatten die weltweit erste randomisiert-kontrollierte Studie zum Vergleich von Fixierung und Isolierung durchgeführt (10) und nach einem Jahr dieselben Patienten noch einmal (telefonisch) nachbefragt mittels der für diesen Zweck entwickelten Coercion Experience Scale (11), die inzwischen in viele Sprachen übersetzt wurde, allerdings nicht zur Weiterentwicklung von Alternativen (wie hier geplant) genutzt wurde. Bei der Befragung betroffener Patienten im RCT hatten sich keine Unterschiede zwischen Fixierung und Isolierung ergeben, bei der Nachbefragung ein Jahr nach Entlassung (12) wurden beide Maßnahmen als sehr traumatisierend und menschenunwürdig beschrieben, die Fixierung aber noch signifikant negativer. Diese Studie wurde vom Bundesverfassungsgericht als Begründung zitiert, warum Fixierung die eingreifendste Maßnahme sei und einen Richtervorbehalt benötige. Angesichts von immer noch jährlich ca. 10.000 solcher Maßnahmen allein in Baden-Württemberg (dabei alle Maßnahmen in Pflege- und Behindertenheimen und in somatischen Krankenhäusern noch nicht erfasst) besteht dringender Handlungs- und Forschungsbedarf, weniger eingreifende Alternativen, sog. „mildere Mittel“, zu entwickeln, um Fixierungen und Isolierungen wenigstens teilweise zu ersetzen. Wie ein eigenes systematisches Review gezeigt hat, sind Fixierungen auch keineswegs sicher im Sinne der Patientensicherheit, sondern mit vielen Komplikationen bis zur Todesfolge behaftet (13). Weder in Deutschland noch international gibt es jedoch derzeit bekannte Initiativen zur Entwicklung von Alternativen, soweit aus der publizierten Literatur und einschlägigen Kongressen ersichtlich. In dieser Lücke soll das vorgeschlagene Projekt Bewegung bringen.
Literatur
1. DGPPN (Hg) (2019) S3 Leitlinie Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen. Berlin: Springer
2. Bundesverfassungsgericht, Entscheidung vom 23.7.2018. www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/EN/2018/07/rs20180724_2bvr030915en.html
1. Flammer E, Steinert T. Das Fallregister für Zwangsmaßnahmen nach dem baden-württembergischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz: Konzeption und erste Auswertungen. Psychiat Prax 2019; 46: 82-89
2. Steinert T, Hirsch S, Flammer E. Auswirkungen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2018 zu Fixierungen : Zwangsmaßnahmen in den psychiatrischen Kliniken in Baden-Württemberg 2019 im Vergleich zu 2015–2017. Nervenarzt 2022; 93:706-712
3. Flammer E, Eisele F, Hirsch S, Steinert T. Increase in coercive measures in psychiatric hospitals in Germany during the COVID-19 pandemic. PLoS One 2022 Aug 31;17(8):e0264046
4. Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Dreizehnte Tagung 25. März -17. April 2015. Abschließende Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands. www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/UN-Dokumente/CRPD_Abschliessende_Bemerkungen_ueber_den_ersten_Staatenbericht_Deutschlands.pdf [21.9.2019].
5. World Health Organization (2021). Guidance on community mental health services. Promoting person-centred and rights-based approaches. Online verfügbar: www.who.int/publications/i/item/9789240025707. Zugriff am 3.9.2021
6. Deutscher Ethikrat (2018) Benevolent coercion – tensions between welfare and autonomy in professional caring relationships. Executive summary and recommendations.
7. Steinert T, Hirsch S, Goebel R, et al. Reduction of coercive measures under routine conditions in psychiatric hospitals 2004–2019: Strong effects in old age psychiatry, much less in general psychiatry. Eur Psychiatry 2020; 63: e102.
8. Bergk J, Einsiedler B, Flammer E, Steinert T. A randomized controlled comparison of seclusion and mechanical restraint in inpatient settings. Psychiatric Services 2011: 62;1310-1317
9. Bergk J, Flammer E, Steinert T. "Coercion Experience Scale" (CES) - validation of a questionnaire on coercive measures. BMC Psychiatry 2010;10:5
10. Steinert T, Birk M, Flammer E et al. Subjective distress after seclusion or mechanical restraint: One-year follow-up of a randomized controlled study. Psychiatr Serv 2013; 64: 1012-1017
11. Kersting XAK, Hirsch S, Steinert T. Physical harm and death in the context of coercive measures in psychiatric patients: A systematic review. Front Psychiatry 2019; 10: 400
4. Projektziele
- Pilotstudie zur Exploration möglicher Risiken und geeigneter Anwendungsgebiete des Verfahrens
- Vorbereitung einer CE-Zertifizierung
5. Zielgrößen
Es handelt sich nicht um eine kontrollierte Studie. Die erwarteten Ergebnisse sind qualitativer Art.
6. Studienpopulation
Da es sich um eine Pilotstudie handelt, sind keine genau definierten Ein- und Ausschlusskriterien erforderlich. Einbezogene professionelle Beschäftigte müssen eigene berufliche Erfahrungen mit der Durchführung von Fixierungsmaßnahmen haben. Einbezogene Patientinnen und Patienten sollen einwilligungsfähig sein, sich nicht gegenwärtig in stationärer Behandlung befinden und persönlich schon Fixierungsmaßnahmen erfahren haben. Es sollen 10 Professionelle (aus den Berufsgruppen ärztlicher Dienst und Pflegedienst) und 10 Patienten/Patientinnen einbezogen werden.
7. Methodik der Durchführung
Die Rekrutierung geeigneter professioneller Teilnehmender erfolgt durch persönliche Ansprache, zahlreiche Interessierte sind dem Studienleiter aus dem professionellen Arbeitsfeld gut bekannt. Sie werden über die Studie aufgeklärt und unterschreiben eine Einverständniserklärung. Für die Herstellung einer Videoaufnahme erfolgt eine gesonderte Einverständniserklärung (ein Teilnehmender). An persönlichen Daten werden bei den Beschäftigten Geschlecht, Berufsgruppe und Alter erfasst. Die Patientinnen und Patienten werden durch behandelnde Ärztinnen und Ärzte in der Institutsambulanz darauf angesprochen, ob sie teilnehmen möchten. Die detaillierte Aufklärung über den Zweck der Studie erfolgt dann durch den Studienleiter oder ein Mitglied der Forschungsgruppe. Bei den Patienten werden Alter, Geschlecht, Anzahl stationärer psychiatrischer Behandlungen und (ggf. ungefähre) Anzahl bereits erlebter Zwangsmaßnahmen erfasst. Die Daten werden unter einem Pseudonym-Vornamen gespeichert und ausgewertet (z.B. „Adam“).
Intervention:
Bei allen Teilnehmenden wird zunächst eine 5-Punkt-Fixierung am Bett durchgeführt, weil die Maßnahme eine Alternative zu einer sonst erforderlichen Fixierung sein soll. Nach 5 Minuten wird diese beendet und ersetzt, indem der sog. Immobilisierungssack mittels einem 10 bis 30 cm langen herkömmlichen Fixiergurt (verstellbar je nach klinischer Situation) am Handgelenk der dominanten Hand befestigt wird. Die Maßnahme soll über eine Stunde beibehalten werden und findet unter 1:1 Begleitung einer Pflegekraft aus der Pflegentwicklung oder aus dem Kreis der Deeskalationstrainer statt. Die Maßnahme findet, wie auch sonst lege artis, in einem separaten Raum (Isolierraum), nicht für andere Patient:innen der Station sichtbar, statt. Währenddessen soll gegessen und getrunken und, falls gewünscht, auch die Toilette aufgesucht werden. Auf Wunsch kann die Maßnahme selbstverständlich jederzeit abgebrochen werden. Mit einem Teilnehmenden wurde ein instruktives Video von ca. 5 bis 10 Minuten Dauer angefertigt. Das Video findet sich hier:
Bei den teilnehmenden Patientinnen/Patienten besteht die Intervention im gemeinsamen Betrachten des Videos. Ggf. werden Fragen beantwortet, anschließend erfolgt ein Interview wie bei den Beschäftigten mit denselben Fragestellungen.
Interview und Datenerhebung:
Das semistrukturierte Interview wird auf Datenträger aufgezeichnet und hat folgende Leitfragen:
- für welche Patientinnen/Patienten mit Selbst- und Fremdgefährdung würden Sie diese Art der Sicherungsmaßnahme für geeignet halte, für welche nicht?
- Welche Sicherheitsprobleme für Patientinnen und Patienten und Betreuungspersonen könnten Sie sich dabei vorstellen?
- Könnte man diesen mit geeigneter Modifizierung der Maßnahme begegnen?
- wie beurteilen Sie die Maßnahme im Hinblick auf Menschenwürde und Erhaltung von Autonomie, auch im Vergleich zu Fixierung und Isolierung?
Das Interview wird durch den Studienleiter oder Mitarbeitende der Forschungsabteilung durchgeführt und aufgezeichnet. Es erfolgt eine Transkription und qualitative Auswertung.
8. Nutzen-Risiko-Abwägung
Für die teilnehmenden Professionellen sind keine plausiblen Risiken erkennbar. Es handelt sich um Personen, die großes Interesse und viel Erfahrung mit diesen Fragestellungen haben. Bei den befragten Patientinnen und Patienten wäre vorstellbar, dass sie durch das Betrachten des Videos mit eigenen unangenehmen Erinnerungen konfrontiert werden. Es ist jedoch erfahrungsgemäß davon auszugehen, dass solche besonders vulnerable Betroffene gar nicht erst ihr Einverständnis an einer Teilnahme bekunden würden.
9. Biometrie
Es handelt sich um eine qualitative Pilotstudie. Die Stichprobe dürfte erfahrungsgemäß für diesen Zweck ausreichen. Eine Stichprobenkalkulation ist nicht sinnvoll und möglich.
10. Datenmanagement und Datenschutz
Die Daten werden mit einem Pseudonym (fiktiver Vornamen) sowie der Gruppe (Beschäftigte B, Patienten P) registriert. Nach der Auswertung der deskriptiven Stichprobenmerkmale werden die deskriptiven Angaben vernichtet. Die Interviews werden auf einem Server der Forschungseinrichtung mit strikt geregelter Zugangsberechtigung gespeichert.