Chronisch lymphatische Leukämie (CLL)
Expert*innen
- internistisch
Prof. Dr. med. Stephan Stilgenbauer
Ärztlicher Direktor Comprehensive Cancer Center Ulm (CCCU), Leiter Early Clinical Trials Unit (ECTU), Leiter Sektion CLL, Klinik für Innere Medizin III
Prof. Dr. med. Hartmut Döhner
Ärztlicher Direktor der Klinik für Innere Medizin III (Hämatologie, Onkologie, Palliativmedizin, Rheumatologie und Infektionskrankheiten)
Schwerpunkte
Stv. Direktor, Comprehensive Cancer Center Ulm (CCCU)
Mitglied des Direktorats des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen SüdWest (NCT SüdWest)
Leiter der Deutsch-Österreichischen AML Studiengruppe (AMLSG)
Sprecher des Sonderforschungsbereichs SFB 1074 “Experimentelle Modelle und klinische Translation bei Leukämien“
Dr. med. Christof Schneider
Oberarzt CCCU, Facharzt für Innere Medizin und Hämatologie und Onkologie
Beschreibung der Erkrankung
Die chronische lymphatische Leukämie (CLL) ist durch eine unkontrollierte Vermehrung von reif erscheinenden, aber nicht funktionstüchtigen Lymphozyten (bestimmte Art der weißen Blutkörperchen, die wichtiger Bestandteil des Immunsystems sind), in Knochenmark und Blut gekennzeichnet. Im Verlauf der Erkrankung kommt es zu einer Vermehrung dieser entarteten Zellen in Blut, Knochenmark, Lymphknoten, Milz und anderen Organen und in der Folge zu gesundheitlicher Beeinträchtigung durch die Verdrängung gesunder Organe und deren Funktionen oder Verdrängung der normalen Blutbildung im Knochenmark.
Häufigkeit und Erkrankungsalter
Die chronische lymphatische Leukämie ist die häufigste Leukämieerkrankung des Erwachsenenalters. In Deutschland treten jährlich ungefähr 5600 Neuerkrankungen auf. Das Risiko an einer CLL zu erkranken nimmt mit steigendem Lebensalter zu. Der Erkrankungsgipfel liegt bei ca. 65 Jahren. Allerdings sind etwa 20 % der Patienten jünger als 50 Jahre.
Ursachen und Risikofaktoren
Die Ursache der CLL ist bisher ungeklärt. Ein klarer Zusammenhang mit Strahlen, Giften oder anderen Umweltfaktoren konnte nicht gezeigt werden. Jedoch wird durch organische Lösungsmittel das Risiko an einer CLL zu erkranken erhöht. Ursächlich liegen der Erkrankung genetische Veränderungen ("Gendefekt") in einer Blutzelle zugrunde. Diese Gendefekte entstehen in einer ursprünglich normalen Blutzelle, die daraufhin entartet und sich vermehrt. Es handelt sich nicht um eine erbliche Veränderung. Allerdings ist das Risiko eine CLL zu entwickeln bei Verwandten ersten Grades von CLL Patienten etwas erhöht.
Krankheitszeichen
Bei der großen Mehrzahl der Patienten wird die CLL heute in einem frühen Stadium der Krankheit, meistens zufällig bei einem Routine-Gesundheitscheck oder einer Blutuntersuchung diagnostiziert. Beim Fortschreiten der Erkrankung führen Beschwerden wie Lymphknotenschwellung, Leistungsminderung, Blässe, Kurzatmigkeit (durch Verminderung der roten Blutkörperchen), Blutungsereignisse (durch Verminderung der Blutplättchen) oder Infektionen (durch Verminderung der normalen weißen Blutkörperchen) zur Diagnosestellung. Zusätzlich können B-Symptome (Fieber, Nachtschweiß mit Kleidungswechsel und ungewollter Gewichtsverlust) im Verlauf der Erkrankung auftreten. Da grundsätzlich jedes Organ von der CLL betroffen sein kann, können die Beschwerden der Patienten insgesamt sehr vielfältig und teilweise untypisch sein.
Untersuchungen
Anamnese und körperliche Untersuchung
In einem ärztlichen Gespräch werden sämtliche Beschwerden (auch das Fehlen von Beschwerden) sowie relevante Vorerkrankungen erfragt. In einer körperlichen Untersuchung, die vor allem das Ertasten möglicher Lymphknotenschwellungen bzw. einer Leber- und Milzvergrößerung beinhaltet, wird eine erste Erhebung der Ausbreitung der Erkrankung vorgenommen.
Laboruntersuchungen
In erster Linie sind Blutuntersuchungen erforderlich um die Diagnose der CLL zu stellen. Daneben geben die Blutuntersuchungen Aufschluss über den allgemeinen Gesundheitszustand, insbesondere die Funktion anderer Organe, wie Leber oder Niere sowie über Begleiterkrankungen oder möglicherweise schon aufgetretene Komplikationen. Darüber hinaus werden aus Blutuntersuchungen wichtige Informationen zur Vorhersage des Krankheitsverlaufs (molekulare Zytogenetik, Molekulargenetik, Proteinexpression wie z.B. ZAP-70) ermittelt. Nach entsprechender Information und schriftlicher Einwilligung des Patienten kann gleichzeitig eine geringe Menge Blut für wissenschaftliche Untersuchungen asserviert werden. Dies dient letztlich dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn und hilft die Behandlung der CLL weiter zu verbessern. Eine Knochenmarkentnahme ist in der Regel zur Diagnosestellung nicht erforderlich, kann aber im Krankheitsverlauf in bestimmten Situationen notwendig werden.
Weitere Untersuchungen
Zur Beurteilung der Funktion wichtiger Organe sowie zur genauen Erfassung der Ausbreitung der Erkrankung sind Ultraschalluntersuchungen von Leber, Milz und Lymphknoten erforderlich. Ggf. kann noch zur exakten Beurteilung der Ausbreitung eine Computertomographie durchgeführt werden. Zur Überprüfung von Organfunktionen kann eine Lungenfunktionsprüfung, EKG oder Ultraschalluntersuchung des Herzens erforderlich sein.
Klassifikation der CLL
Zur Abschätzung des Krankheitsverlaufes für einen individuellen Patienten und zur Beratung über die bestmögliche Behandlungsstrategie muss die CLL genau subklassifiziert werden. In den vergangenen Jahren ist es gelungen, verschiedene Untergruppen zu identifizieren, die mit sehr unterschiedlichen Krankheitsverläufen verbunden sind. Hierzu werden Untersuchungen von genetischen Veränderungen (IGHV-Mutations-Status, genomische Aberrationen mittels FISH, Mutationsanalysen von Genen wie TP53, ATM, NOTCH1, SF3B1, etc.) sowie von Eiweißmolekülen (CD38, ZAP-70) durchgeführt. Diese Faktoren erlauben ergänzend zum klinischen Erscheinungsbild der Erkrankung eine bessere Abschätzung des zukünftigen Krankheitsverlaufs und der erfolgversprechendsten Behandlungsmöglichkeiten. In vielen Fällen ist im frühen Stadium der Erkrankung keine Behandlung erforderlich. Es kann aber abgeschätzt werden, ob die Krankheit rasch voranschreiten wird und eine Therapie möglicherweise erforderlich werden wird bzw. welche Behandlung dann die besten Erfolgsaussichten bietet.
Behandlungsmöglichkeiten
Die Auswahl der Behandlung richtet sich nach dem Alter und Allgemeinzustand des Patienten, nach der klinischen Ausbreitung (Stadium) der Erkrankung, eventuellen Begleiterkrankungen sowie dem individuellen Patientenwunsch und Risikoprofil (insbesondere molekulare Marker, s.o.). Es stehen eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Behandlung der CLL zur Verfügung, jedoch ist sie durch die aktuell zur Verfügung stehen Therapien - mit Ausnahme der Stammzelltransplantation von einem Familien- oder Fremdspender - nicht heilbar. In den letzten Jahren hat sich die Therapie der CLL stark gewandelt, neue spezifische Inhibitoren haben die klassische Chemotherapie fast vollständig verdrängt. Die Wahl der Therapie hängt unter von Begleiterkrankungen, den genetischen Veränderungen sowie dem Alter ab. Wenn möglich sollte die Therapie immer im Rahmen von klinischen Studien erfolgen.
Abwartende Beobachtung ("watch and wait")
Diese Behandlungsform wird meist gewählt, wenn ein frühes Stadium der Erkrankung ohne Beschwerden vorliegt. Eine Behandlung von Patienten im frühen Stadium zeigte in Studien bisher keine Verbesserung gegenüber einer zunächst abwartenden Haltung und Beginn einer Behandlung beim Auftreten von Problemen. In diesem Zusammenhang ist wichtig zu wissen, dass es bei CLL-Patienten durchaus häufiger Erkrankungsverläufe gibt, bei denen über viele Jahre oder gar Jahrzehnte keine Beschwerden oder bedrohliche Komplikationen auftreten. In aktuellen Therapiestudien wird geprüft, ob eine nach dem individuellen Risiko eines Patienten gesteuerte frühe Therapie doch zu einer Verbesserung führt.
„Small molecule“ Inhibitoren
BTK-, PI3K- und BCL2-Inhibioren bieten die Möglichkeit einer chemotherapiefreien Therapie und haben dadurch die Behandlung der CLL revolutioniert. Diese Medikamente zeigen auf bei Patienten mit einem schlechten genetischen Profil eine ausgezeichnete Wirkung. Es handelt sich dabei um Medikamente, die gezielt in den CLL-Zellen wichtige Schlüsselmolekülen angreifen und somit zum Zelltod führen. Neben ihrer hohen Effektivität zeichnen sie sich durch eine gute Verträglichkeit aus und können auch bei älteren Patienten angewandt werden. Durch die Einführung der unterschiedlichen Inhibitoren haben sich die Therapiemöglichkeiten auch bei einem Wiederauftreten der Erkrankung deutlich verbessert.
Antikörper
Antikörper sind wie die „small molecule“ Inhibitoren Medikamente, die gezielt gegen die CLL-Zellen vorgehen und eine sehr wirksame Behandlung darstellen. Antikörper die gegen das Oberflächenmolekül CD20, das auf CLL-Zellen zu finden ist, gerichtet sind können sowohl mit den „small molecule“ Inhibitoren als auch mit der konventionellen Chemotherapie kombiniert werden. In Ausnahmefälle kann auch eine alleinige Antikörpertherapie erwogen werden.
Chemotherapie
Die konventionelle Chemotherapie kann die CLL zwar meist wirkungsvoll zurückdrängen, ist aber in den meisten Fällen der Therapie mit den neuen Inhibitoren unterlegen. Sie kommt nur noch in Einzelfällen für Patienten mit einem sehr guten Risikoprofil in Frage, ist aber auch in dieser Gruppe nicht besser als die „small molecule“ Inhibitoren.
Stammzelltransplantation
Bei einer kleinen Gruppe an ausgewählten Patienten kann die Stammzelltransplantation mit fremden ("allogenen", entweder von Geschwistern oder Fremdspendern) Stammzellen durchgeführt werden. Diese Verfahren bieten die Chance einer dauerhafteren Krankheitskontrolle, möglicherweise auch Heilung, sind andererseits aber mit mehr Nebenwirkungen und Risiken im Vergleich zu einer konventionellen Chemotherapie verbunden. Hier muss eine sehr individuelle Beratung erfolgen. Aufgrund des vergleichsweise hohen Risikos dieser Behandlungsstrategie wird sie nur bei Patienten mit sehr ungünstigem, therapieresistentem Verlauf der CLL oder bestimmten genetischen Hochrisikomerkmalen empfohlen.
Therapiestudien
In Therapiestudien werden neue Behandlungsformen - neue Medikamente oder Kombinationen von Medikamenten - an Patienten untersucht. Über die letzten Jahrzehnte konnte hierdurch wichtige Fortschritte in der Diagnostik und Therapie der CLL erzielt werden. Deshalb sollte die Therapie der CLL im Rahmen von klinischen Studien erfolgen. Die Teilnahme an einer „Studie“ bietet dem Patienten neben der Verfügbarkeit neuer innovativer Wirksubstanzen, eine standardisierte Therapieüberwachung mit regelmäßiger Überprüfung des Erkrankungsverlaufs durch international anerkannte Experten. Es ist ständig ein Spektrum an klinischen Studien verfügbar, die in verschiedenen Erkrankungssituationen die aussichtsreichsten Behandlungsmöglichkeiten bieten.
Supportive Therapie
Durch die Armut an gesunden Blutzellen kann es zu Infektionen, Blutungen oder Schwäche und Müdigkeit kommen. Es können somit die Transfusion von Blutprodukten und die Gabe von Antibiotika erforderlich werden. Weitere supportive Maßnahmen (Behandlung von Schmerzen oder Gabe von Immunglobulinen) richten sich nach dem individuellen Behandlungsverlauf.
Prognose
Es wird weltweit intensiv an der Entwicklung neuer Marker zur Prognoseabschätzung und Medikamenten zur Behandlung geforscht. Ziel ist die individuell gesteuerte Behandlung von CLL-Patienten. Hierzu finden Forschungsprojekte und Therapiestudien statt, in denen die innovativsten Maßnahmen zur Risikoabschätzung und Behandlung angewendet werden. Mit diesen Maßnahmen soll für jeden individuellen Patienten eine möglichst gute Aussicht auf Lebensqualität, Krankheitskontrolle und möglicherweise Heilung erreicht werden.