Wie Studierende helfen, die Pandemie in den Griff zu bekommen

Die Corona-Pandemie ist eine Herausforderung, besonders für Ärztinnen und Ärzte sowie das Pflegepersonal. Doch auch Medizinstudierende leisten ihren Teil - zum Beispiel im Gesundheitsamt.


„Nein, Sie dürfen dann nicht in den Keller gehen, um Wäsche zu waschen“, sagt Lilly Brand. Die 28-Jährige ist dabei, einer Frau, die sich mit dem Coronavirus infiziert hat, am Telefon zu erklären, was häusliche Quarantäne bedeutet. Seit Anfang November arbeitet die Medizinstudentin 15 Stunden pro Woche am Landratsamt Alb-Donau-Kreis im Fachdienst Gesundheit – umgangssprachlich: im Gesundheitsamt. Parallel absolviert sie das Abschlusssemester ihres Medizinstudiums an der Universität Ulm.
Schon im Frühjahr habe sie das Bedürfnis gehabt, einen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie zu leisten, erzählt die junge Frau. Ein paar ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen hätten damals bereits im Gesundheitsamt mitgeholfen. Während dieser Phase des Studiums habe sie aber leider nicht genügend Zeit gefunden. „Außerdem war klar: Während ich hier arbeite, kann ich nicht zu meinen Eltern gehen und muss auch sonst meine Kontakte noch drastischer reduzieren“, sagt Brand. Ihre Mutter ist schwer lungenkrank. Auch deshalb fühlt sie sich zum Helfen berufen.


„Als die zweite Welle kam, dachte ich: Jetzt ist es so weit.“ Sie machte sich einen Plan, um Studium und Arbeit unter einen Hut zu bringen und reduzierte ihre Kontakte auf nahezu Null. „Ich habe zwei Mitbewohner und einen Partner, aber sonst sehe ich wirklich niemanden“, erklärt sie. Montags und dienstags besucht sie Seminare und Vorlesungen – alles online, versteht sich. „Das ist jetzt alles ziemlich kompakt.“ Erst heute Morgen habe sie drei Prüfungen gehabt, berichtet die angehende Ärztin.  
Das helle, freundliche Büro im Neubau der Ulmer Schillerstraße ist mit drei PC-Arbeitsplätzen ausgestattet. „Normalerweise sind wir zu dritt“, sagt die Medizinstudentin. Selbstverständlich tragen alle einen Mund-Nasen-Schutz oder eine FFP-2-Maske. Heute hat sie das Büro für sich alleine. Dass sie an jenem Montag hier ist, ist ohnehin eine Ausnahme. Normalerweise ruft sie mittwochs bis freitags, jeweils von 12 bis 17 Uhr Indexpersonen an. So werden Menschen bezeichnet, die positiv auf das Virus getestet wurden. „Als erstes frage ich immer, ob sie ihr Testergebnis schon kennen“, sagt Brand. Etwa 90 Prozent wüssten Bescheid, manche seien aber auch komplett geschockt. Erst kürzlich habe ein junger Mann sie verzweifelt gefragt: „Muss ich jetzt sterben?“
„Man muss die Leute ernst nehmen und oft erst mal runterholen“, sagt Brand. Zwar reagierten manche anfangs wütend oder trotzig auf die Quarantäne-Mitteilung. Wenn man ihnen alles in Ruhe erkläre, sähen sie es aber meistens ein. „Sie verstehen, dass wir ja auch nichts dafür können.“ Auch die Menschen, die mit der Indexperson im selben Haushalt leben, werden durch Brand informiert. Man müsse die Wohnsituation und die Details der Quarantäne besprechen, sagt Brand. Etwa: Wird der Flur oder der Keller auch von anderen Personen genutzt? Ist der Weg zum Briefkasten von außen zugänglich? Gibt es Freunde oder Bekannte, die für die infizierte Person oder Familie einkaufen gehen können? „Die erste Antwort lautet oftmals: Nein“, sagt Brand. Hake man genauer nach, so täten sich aber oft doch Wege auf, wie die Regelungen umgesetzt werden können. Wenn sie selbst nicht weiter weiß, fragt Brand Kollegen oder ihre Teamleitung. Rücksprache zu halten, sei sehr wichtig. „Es geht hier um einschneidende Maßnahmen. Da darf man in keinem Fall leichtfertige Aussagen treffen.“


Wenn sie ins Büro kommt, checkt die Studentin zuallererst ihre Mails: Gibt es neue Regelungen zum Nachverfolgen von Kontakten? Hat sich an den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts etwas geändert? Vor allem in den letzten Wochen sei vieles umgestellt worden, berichtet Brand. „Anfang Dezember hatten wir das Gefühl, wir fangen komplett neu an.“ Vor allem für Studierende, die nur an einem Tag in der Woche aushelfen, sei es schwierig, auf dem neuesten Stand zu bleiben. „Man muss in der Lage sein, sich schnell neues Wissen anzueignen“, meint Brand. Außerdem gelte es, wachsam zu sein. Denn manches von dem, was die Menschen am Telefon sagen, sei extrem wichtig und könne das weitere Vorgehen erleichtern oder Hinweise auf größere Ausbrüche geben.
„Manchmal hat man das Gefühl, man kommt gar nicht mehr hinterher“, sagt Brand. Die Telefonate können zwischen 15 Minuten und einer Stunde dauern. Weil die Arbeitsbelastung mit der zweiten Welle im Herbst enorm hoch wurde, wandte sich Landrat Heiner Scheffold Ende Oktober an Professor Dr. Udo X. Kaisers, den Leitenden Ärztlichen Direktor und Vorstandsvorsitzenden der Ulmer Uniklinik. Die Uniklinik startete daraufhin einen internen Aufruf und suchte nach Ärztinnen und Ärzten, die das Gesundheitsamt unterstützen könnten. Auch Professorin Anne Barzel, Direktorin des Instituts für Allgemeinmedizin an der Ulmer Uniklinik, erhielt die Anfrage. Sie nahm Kontakt zu Herrn Marc Bierkamp, dem kommissarischen Leiter des Gesundheitsamtes auf, um zu eruieren, welche Art von Hilfe denn genau gebraucht wurde. Schnell wurde klar, dass auch Medizinstudierende, die bereits Gesprächs- und klinische Erfahrung haben, nach einer eintägigen Unterweisung Telefonate mit Indexpersonen übernehmen könnten. Ab dem 7. Semester dürften Studierende bei Tätigkeiten im Gesundheitsamt mithelfen, bei denen eine medizinische Vorbildung notwendig ist, erklärt Barzel. „Mit Unterstützung der Fachschaft hatten sich 48 Stunden später fast 50 Studierende gemeldet, die die Voraussetzungen erfüllten.“
Insgesamt arbeiten derzeit 22 Studierende am Gesundheitsamt – wohlgemerkt gegen Bezahlung. Das Team vom Institut für Allgemeinmedizin bietet Koordination und Begleitung an. „Uns interessiert, wie es bei den Studierenden läuft“, sagt Barzel. Bei einem ersten virtuellen Meeting kam der Vorschlag auf, sich regelmäßig auszutauschen und Informationen zur Verfügung zu stellen. „Wir treffen uns jetzt alle zwei Wochen mittwochs via Videochat“, berichtet Barzel. Zudem wurde ein eigener Bereich auf der Lernplattform Moodle eingerichtet, über den sich die Studierenden austauschen können. Dort wird auch über weitere Möglichkeiten diskutiert, wie sich die angehenden Ärzte und Ärztinnen in die Gesundheitsversorgung einbringen könnten. Denn zu tun gibt es genug: „Den Pflegeheimen fehlt des derzeit massiv an Personal. Auch hier könnten wir helfen, etwa beim Testen der Besucher“, sagt Brand. Ihre Augen leuchten. Ärztin sei schon immer ihr Traumberuf gewesen, erzählt sie. In mehreren Praktika noch während der Schulzeit habe sich dieser Wunsch bestätigt.


Welche Fachrichtung sie später einschlagen wird, weiß sie noch nicht genau. Bislang sei sie aber mit all ihren Entscheidungen zufrieden – auch mit der, im Gesundheitsamt zu arbeiten. Dabei lerne man manches, was im Studium mitunter zu kurz kommt: „Man kommt ins Gespräch mit Menschen und lernt, sie zu beruhigen.“ Brand fände es daher sinnvoll, wenn man sich die Arbeit am Gesundheitsamt auch als Studienleistung anrechnen lassen könnte. Überhaupt wünscht sie sich einen höheren praktischen Anteil im Medizinstudium. „Klar ist die Theorie wichtig. Aber man darf eines nicht vergessen: Wir arbeiten mit Menschen.“ Es sei daher extrem wichtig, seine eigenen Hemmungen abzubauen und zu lernen, wie man mit bestimmten Situationen – etwa dem Überbringen belastender Nachrichten – umgeht.

 

Medizinstudentin Lilly Brand bei ihrer Arbeit im Gesundheitsamt

Medizinstudentin Lilly Brand bei ihrer Arbeit im Gesundheitsamt