Warum sich "alternative" Jugendliche häufiger selbst verletzen

Untersuchung zum Zusammenhang zwischen nicht-suizidalem selbstverletztendem Verhalten, Suizidversuchen und jugendlicher Identität

In einer aktuellen Studie unter deutschen Jugendlichen konnte gezeigt werden, dass sich 45,5% derjenigen „alternativen“ Jugendlichen, die sich als zugehörig zur Emo-, Gothic- oder Punk-Jugendkultur erlebten, selbst verletzen, und 17,2% von ihnen einen Suizidversuch aus der Vorgeschichte berichteten. Die Studie wurde durch die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm gemeinsam mit dem Medical Research Council (MRC), Social and Public Health Science Unit, an der Universität Glasgow (Dr. Robert Young) durchgeführt. Die meisten der Jugendlichen gaben als Grund für die Selbstverletzung die Regulation von emotionalem Stress und die Kommunikation dieser Zustände an Freunde und Familie an. Eine Minderheit berichtete davon, dass auch die Zugehörigkeit zu einer Jugendgruppe eine Rolle bei ihrer Selbstverletzung spiele.

 

Motivation zur Selbstverletzung unterschiedlich

In dieser Studie wurde zum ersten Mal untersucht, warum Jugendliche, die sich einer alternativen Jugendgruppe zugehörig fühlen, ein höheres Risiko haben, sich selbst zu verletzen, und in welcher Art und Weise sich die Motivation zur Selbstverletzung bei Angehörigen dieser Gruppe von anderen Jugendlichen unterscheidet. In früheren Forschungsarbeiten konnte gezeigt werden, dass die Mehrheit der Jugendlichen, die sich selber verletzen, auch Freunde haben, die sich selber verletzen – was zu der Feststellung geführt hat, dass nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) im Jugendalter sozial „ansteckend“ sein könnte. Im Widerspruch dazu gaben in der aktuellen Studie nur wenige Jugendliche an, dass sie sich selbst verletzen, um sich als Teil einer Gruppe fühlen zu können.

 

Die Studie, die aktuell im Fachjournal BMC Psychiatry veröffentlicht wurde, wurde an 452 Schülern zwischen 14 und 15 Jahren in Süddeutschland durchgeführt. Die Jugendlichen beantworteten dabei Fragen über ihre Identifikation mit bestimmten Jugendkulturen einerseits, andererseits über verschiedene Risikofaktoren, die mit selbstverletzendem Verhalten in Verbindung gebracht wurden, ebenso wie Fragen zum sozialen Hintergrund  und zu Mobbing. Die Studie zeigt, dass sich Teenager, die sich mit einer alternativen Jugendkultur wie etwa Gothic, Emo oder Punk identifizierten, drei bis vier Mal so häufig selbst verletzen und sechs bis sieben Mal so häufig eine Vorgeschichte eines Suizidversuchs berichteten, wie Teenager, die sich nicht einer solchen Jugendkultur zugehörig fühlten.  Der Zusammenhang zwischen Selbstverletzung und Jugendkultur bleibt auch dann bestehen, wenn man andere Risikofaktoren berücksichtigt. Die Identifikation mit der alternativen Jugendkultur spielte für die Entwicklung von selbstverletzendem Verhalten oder Suizidversuche eine größere Rolle als eine Mobbingvorgeschichte.

 

Risiken in verschiedenen Jugendkulturen

In der Studie wurden auch andere Jugendkulturen untersucht. Es zeigte sich, dass vor allem Jugendliche, die sich selbst als „Sportler“ bezeichneten, im Vergleich zu anderen Jugendlichen ein geringeres Risiko hatten, sich selbst zu verletzen. Die Autoren nehmen an, dass dies den bekannten Effekten von regelmäßiger körperlicher Bewegung zugeordnet werden kann, die bei Erwachsenen erwiesenermaßen die Stimmung hebt und Depressionen vorbeugt. Ein weiterer interessanter Aspekt dieser Studie zeigte, dass jene Jugendlichen, die sich selbst als „Nerds“ bezeichneten, nicht – wie diese Jugendkultur gerne stereotyp dargestellt wird – stark gemobbt werden. Sie sind auch nicht häufiger als andere Jugendkulturen von selbstverletzendem Verhalten oder Suizidversuchen betroffen.

 

Von den Autoren wurde angeführt, dass bei der Interpretation der Befunde verschiedene Aspekte berücksichtigt werden müssen, etwa die Tatsache, dass die Auskünfte nur per Fragebogen erhoben wurden und dass nur eine Minderheit der Schüler sich als einer alternativen Jugendkultur zugehörig definierte (7,4 %). Die Autoren weisen darauf hin, dass ihr Ergebnis keinen Hinweis dafür liefert, dass selbstverletzendes Verhalten durch die Identifikation mit einer alternativen Jugendkultur entsteht, vielmehr ist es wahrscheinlicher, dass Jugendliche, die sich isoliert fühlen und sich selbst verletzen bzw. emotionale Probleme haben, sich eher zu einer musikalischen (Sub)Kultur hingezogen fühlen, die diese Gefühle ausdrückt. Die Zugehörigkeit kann auch positive soziale Effekte haben.

 

Früh erkennen, gezielte Interventionen entwickeln

In einer Vorstudie konnte Dr. Robert Young, Wissenschaftler am Medical Research Council MRC, Social and Public Health Science Unit, einen starken Zusammenhang zwischen der Gothic-Jugendkultur und selbstverletzendem Verhalten bei jungen Erwachsenen in Glasgow zeigen. Mehr als die Hälfte der Glasgower Teenager, die sich der Gothic-Kultur zugehörig fühlen, berichteten über nicht-suizidalen selbstverletzendes Verhalten und 47 % sagten, sie hätten bereits einen Selbstmordversuch unternommen. Die aktuelle Studie aus Deutschland zeigte, dass sich dieser Effekt des Einflusses von Jugendkultur auch bei jüngeren Jugendlichen in Deutschland finden lässt.

 

Robert Young: „Diese Studie zeigt, wie stark die Verbindung zwischen der sozialen Identität Jugendlicher und dem selbstverletzenden Verhalten ist. Wir hoffen, dass unsere Ergebnisse dazu dienen können, einerseits junge Menschen, die ein Risiko haben, sich selber zu verletzen, früh zu erkennen und ihnen andererseits helfen können, ihre Emotionen in einer weniger körperlich schädlichen Art zu regulieren. Zukünftige Studien sollten sich mit der Thematik befassen, ob dieses Phänomen sich nur in westlichen Kulturen findet oder ob sich ein ähnlicher Effekt auch in anderen Kulturkreisen abbilden lässt“.

 

Studienleiter und Co-Autor Dr. Paul Plener, Leitender Oberarzt der Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, der auf Musiktherapie für Jugendliche mit selbstverletzendem Verhalten spezialisiert ist: „Unsere Forschungsergebnisse unterstreichen die Wahrnehmung, dass soziale Mechanismen selbstverletzendes Verhalten beeinflussen. Das ist von hohem Interesse, wenn es darum geht, präventive Maßnahmen sowie Früherkennung im Bereich von selbstverletzendem und suizidalem Verhalten zu schaffen. Im Weiteren kann auch daran gedacht werden, die Identifikation mit einer gewissen Jugendkultur bzw. -musik in therapeutische Interventionen zu integrieren.“

 

Professor David Lomas, Vorsitzender des MRC Population and Systems Medicine Board: „Globale Schätzungen gehen davon aus, dass 30 % aller Teenager an Selbstmord denken, dass sich 18 % bereits selbst verletzt haben und 4 % tatsächlich einen Selbstmordversuch unternehmen – und die Raten dieser Studie waren typisch für diese Altersgruppe (26 %, 21 % und 4 %). Wenn wir die Gründe verstehen, warum verschiedene Gruppen von Teenagern sich selbst verletzen, wird das hoffentlich zu einem früheren Erkennen und  der Entwicklung von hilfreichen Interventionen für die Gefährdeten führen.“

 

 

Titel der Originalpublikation: Why alternative teenagers self-harm: exploring the link between non-suicidal self-injury, attempted suicide and adolescent identity Robert Young, Nina Sproeber, Rebecca C Groschwitz, Marthe Preiss and Paul L Plener; BMC Psychiatry 2014, 14:137

Der Artikel ist ab Publikation zugänglich unter http://www.biomedcentral.com/1471-244X/14/137 

 

 

Diese Pressemitteilung geben wir in Kooperation mit dem Medical Research Council (MRC) in Großbritannien heraus.

 

Fotos und Grafiken sind nur für die Presseberichterstattung über das in dieser Information mitgeteilte Ereignis freigegeben.

 

 

Dr. Paul Plener_Universitätsklinikum Ulm

Dr. Paul Plener_Universitätsklinikum Ulm