Neue landesweite Studie belegt: Kinder inhaftierter Eltern brauchen spezielles Hilfsangebot

Land und Jugendhilfe müssen Finanzierung übernehmen

Die Inhaftierung eines Elternteils führt bei einem großen Anteil der betroffenen Kinder zu massiven psychischen Problemen. Auch wirkt sie sich negativ auf die Beziehung zu den Eltern aus. Rund ein Drittel aller Inhaftierten in Baden-Württemberg haben Kinder. Damit sind derzeit schätzungsweise 10.000 Kinder im Land betroffen.

Das „Eltern-Kind-Projekt“ des Vereins „Projekt Chance e.V.“ unterstützt in Baden-Württemberg Kinder mit einem inhaftierten Elternteil sowie deren Eltern oder Bezugspersonen in Haft oder Freiheit. Das Projekt, das von der Baden-Württemberg Stiftung noch bis Ende 2016 gefördert wird, kümmert sich um die Familien von Inhaftierten und bietet gerade diesen Kindern professionelle Unterstützung an. Seit 2011 wurden dort insgesamt 418 Familien beraten und betreut. Das Hilfsangebot erfolgt durch die Mitgliedsvereine des Netzwerks Straffälligenhilfe Baden-Württemberg.

Jetzt liegt die erste Evaluationsstudie der Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie zum „Eltern-Kind-Projekt Chance“ vor. Sie belegt, dass diese Kinder und Familien ein spezielles Hilfsangebot vor Ort brauchen. Die Kosten für diese Leistungen müssen künftig vom Jugendamt getragen werden.

„Wenn Eltern ins Gefängnis müssen, leidet die ganze Familie - vor allem die Kinder. Sie verlieren ihr Vertrauen in die Eltern oder entwickeln psychische Auffälligkeiten. Das Familienleben wird auf die Besuchszeiten der JVA beschränkt. Dabei brauchen Kinder gerade in einer solchen Ausnahmesituation eine stabile Beziehung zu beiden Elternteilen. Sie brauchen das Gefühl und die Sicherheit, dass auch der inhaftierte Elternteil noch für sie da ist. Sie brauchen Unterstützung, damit die Verbindung zum inhaftierten Vater oder zur inhaftierten Mutter erhalten bleibt“, sagt Harald Egerer, Geschäftsführer des Vereins „Projekt Chance e.V.“ und Leitender Regierungsdirektor, Leiter des Personalreferats der Abteilung Justizvollzug beim Ministerium der Justiz und für Europa Baden-Württemberg.

„Seit vielen Jahren weiß man in meinem Fach, der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, dass Kinder mit einem inhaftierten Elternteil eine Hochrisikogruppe für seelische Belastungen und Störungen, aber auch für eine eigene Kriminalitätsentwicklung darstellen. Wir sollten uns möglichst mit koordinierten, flächendeckenden Unterstützungsangeboten frühzeitig um diese belasteten Kinder kümmern. Interdisziplinäre Unterstützungsangebote haben sich im Modellprojekt bewährt. Sie gehören als systematische und passgenaue Hilfen in die Regelversorgung, um transgenerationale Teufelskreise zu unterbrechen,“ erklärt Prof. Dr. Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie.

"Mit dem „Eltern-Kind-Projekt Chance“ ist ein wichtiges Angebot geschaffen worden, das eine Versorgungslücke für Kinder inhaftierter Eltern schließen kann. Die Straffälligenhilfe leistet einen wichtigen Beitrag zur Versorgung dieser Familien,“ bestätigt Prof. Dr. Ute Ziegenhain, Leiterin der Sektion Pädagogik, Jugendhilfe, Bindungsforschung und Entwicklungspsychopathologie, Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie.

„Es kann und darf nicht sein, dass Kinder bei der Inhaftierung eines Elternteils auch noch mit bestraft werden! Die Evaluationsstudie zum ‚Eltern-Kind-Projekt‘ belegt, dass diese Kinder ein spezielles Hilfsangebot brauchen. Insgesamt kann das Projekt ab 2017 nur weitergeführt werden, wenn die Finanzierung gemeinsam von der Justiz und der Jugendhilfe getragen wird. Wir sind sehr froh, dass uns Justizminister Guido Wolf zugesichert hat, sich für eine Anschlussfinanzierung für Anteile des Projekts ab 2017 über den Justizhaushalt einzusetzen. Auf die Jugendhilfe entfallen dann noch geschätzte 200T€ pro Jahr, die sich auf 44 Stadt- und Landkreise verteilen. Daran darf es aus unserer Sicht nicht scheitern“, betont Oliver Kaiser vom Netzwerk Straffälligenhilfe Baden-Württemberg und Leiter des Fachbereichs Straffälligenhilfe beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Baden-Württemberg.

Die Baden-Württemberg Stiftung fördert das Projekt mit insgesamt 1,2 Millionen Euro. „Die Baden-Württemberg Stiftung setzt sich mit zahlreichen Programmen und Projekten für die Menschen ein, die Unterstützung benötigen. Das „Eltern-Kind-Projekt Chance“ stellt das Wohl von Kindern in den Vordergrund, die aufgrund der Inhaftierung eines Elternteils in eine schwierige Situation geraten sind. Sie werden mithilfe einer besonderen Betreuung durch ausgebildete Mitarbeiter an die Hand genommen und gestärkt. Und das Projekt zeigt Wirkung: Durch die Betreuung konnten etwa Verhaltensauffälligkeiten bei betroffenen Kindern reduziert werden. Daher hoffen wir, dass die Finanzierung auch für die Zukunft gesichert und das Eltern-Kind-Projekt Chance weitergeführt werden kann,“ sagt Christoph Dahl, Geschäftsführer der Baden-Württemberg Stiftung.

In Ulm wurde das „Eltern-Kind-Projekt Chance“ von Anfang an gut angenommen. Insgesamt wurden zwischen 2012 und 2015 siebenundvierzig inhaftierte Väter, fünfunddreißig Mütter in „Freiheit“ und einundfünfzig Kinder betreut. „Als Schwerpunkt unserer Arbeit hat sich die Besuchsbegleitung herauskristallisiert. Die JVA Ulm ermöglicht den Kindern Sonderbesuche in unserer Begleitung, die über das normale Besuchskontingent hinausgehen. Wir bereiten diese Besuche sowohl mit den Kindern, als auch mit den Eltern vor, um diese möglichst kindgerecht durchführen zu können. Oft sind wir auch als Vermittler zwischen den Elternteilen gefragt. Einerseits empfindet der Gefangene oftmals nur seine Situation als belastend und vergisst was die Inhaftierung für Probleme für die Familie „in Freiheit“ hervorruft, andererseits gilt es auch der Familie die schwierige Situation im Gefängnis zu verdeutlichen. Neben dieser wichtigen Rolle als vertraulicher Gesprächspartner sehen wir uns eher als Koordinatoren, die mit den Familien eine Bedarfsklärung machen und Sie an andere Fachdienste wie Psychologen, Jugendhilfe, Schulsozialarbeit etc. weitervermitteln“, beschreibt Peter Mast, Koordination und Fallmanagement des Eltern-Kind-Projekts Chance bei der Bewährungs- und Straffälligenhilfe Ulm e.V., die Hilfen für die betroffenen Familien.

Weitere Informationen unter www.projekt-chance.de.

Wichtiger Hinweis: Das Ministerium der Justiz und für Europa Baden-Württemberg verschickt zur Veröffentlichung der Evaluationsstudie zum „Eltern-Kind-Projekt Chance“ eine eigene Pressemitteilung.

Hintergrundinformation

Eltern-Kind-Projekt Chance
Im Eltern-Kind-Projekt Chance werden erstmals Kinder von inhaftierten Eltern in Baden-Württemberg systematisch unterstützt. Diese Initiative ist seit 2011 Teil der regulären Arbeit der Straffälligenhilfe Baden-Württemberg und wird durch die Finanzierung der Baden-Württemberg Stiftung ermöglicht. Die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation des Projektes erfolgt durch die Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm. Kinder und Familien mit einem inhaftierten Elternteil werden intensiv beraten, systematisch über bestehende Unterstützungen und Angebote der regulären Versorgungssysteme, wie z.B. der Familienbildung, der Erziehungsberatung oder anderer individuell zugeschnittener Angebote der Kinder- und Jugendhilfe informiert und, nach Wunsch, auch in diese vermittelt. Dieses Informations- und Angebotspaket wurde von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Ulm in enger Kooperation mit der Straffälligenhilfe entwickelt und in deren Praxis überführt.

Netzwerk Straffälligenhilfe in Baden Württemberg
Das Netzwerk Straffälligenhilfe in Baden Württemberg (GbR), ein Zusammenschluss aus dem Badischen Landesverband für soziale Rechtspflege (KdöR) mit Sitz in Karlsruhe, dem Verband der Bewährungs- und Straffälligenhilfe Württemberg e.V. Stuttgart und dem Paritätischer Wohlfahrtsverband, Landesverband Baden-Württemberg e. V., setzt in Baden Württemberg landesweit Projekte der Straffälligenhilfe um. Die Vereine bieten Angebote für Kinder an, bei denen ein Elternteil inhaftiert ist. Weitere Informationen unter www.nwsh-bw.de.

Die Baden-Württemberg Stiftung:
Die Baden-Württemberg Stiftung setzt sich für ein lebendiges und lebenswertes Baden-Württemberg ein. Sie ebnet den Weg für Spitzenforschung, vielfältige Bildungsmaßnahmen und den verantwortungsbewussten Umgang mit unseren Mitmenschen. Die Baden-Württemberg Stiftung ist eine der großen operativen Stiftungen in Deutschland. Sie ist die einzige, die ausschließlich und überparteilich in die Zukunft Baden-Württembergs investiert – und damit in die Zukunft seiner Bürgerinnen und Bürger. www.bwstiftung.de

 

Das Foto im Anhang zeigt (v.l.) Professor Dr. Jörg M. Fegert, Christoph Dahl, Harald Egerer, Peter Mast, Professor Dr. Ute Ziegenhain, Oliver Kaiser (Foto: Universitätsklinikum Ulm)