Gewichtsabnahme ist nicht alles

Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert ein Projekt zum Thema „Jugendliche mit extremer Adipositas” mit zwei Millionen Euro

Im Rahmen der medialen Berichterstattung zur aktuellen Gesundheitsstudie des Robert Koch-Instituts ist dieser Teilaspekt ein Dauerbrenner: „Die Deutschen sind zu dick“, „Zu viele dicke Kinder“, „Deutschlands Bäuche wachsen“ – das sind nur einige Überschriften aus den vergangenen Tagen und Wochen, die nahelegen, dass das Thema „Jugendliche mit extremer Adipositas“ nicht nur aktuell ist, sondern ein wirklich ernstes Problem aufgreift. Gerade deshalb ist der Erfolg von Prof. Dr. Martin Wabitsch, Kinder- und Jugendarzt sowie renommierter Wissenschaftler auf dem Gebiet der Hormonerkrankungen und der Gewichtsregulation, besonders hoch einzuschätzen. Zusammen mit seinem Team startete er in Ulm am gestrigen 1. Juli offiziell den praktischen Teil eines mit zwei Millionen Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojekts. Ab sofort werden junge Patienten in Ulm in dieses Forschungsprojekt aufgenommen. „Für Jugendliche mit extremer Adipositas gibt es bislang kein überzeugendes wissenschaftlich-basiertes Behandlungs- und Betreuungskonzept – weder in Deutschland noch in anderen Ländern“, verdeutlicht Professor Wabitsch die aktuelle Situation und den daraus resultieren Handlungsbedarf.

 

Zahlreiche Folgeerkrankungen möglich

Das mittelfristige Ziel des Projekts – an dem neben Ulm die Charité Universitätsmedizin Berlin, das Universitätsklinikum Leipzig, die Universität Witten-Herdecke und das Universitätsklinikum Essen beteiligt sind – ist die Verbesserung der medizinischen und psychosozialen Betreuung von Jugendlichen mit extremer Adipositas in Deutschland. Denn die Folgen sind ohne einen ganzheitlichen Behandlungsansatz gravierend. Beispielhaft genannt werden können zahlreiche somatische Folgeerkrankungen, zu denen Typ 2 Diabetes mellitus, das Schlafapnoe-Syndrom und orthopädische Störungen gehören. Hinzu kommen häufig psychische Störungen (z.B. Depression, selbstverletzendes Verhalten) und/oder eine soziale Isolation einschließlich Arbeitslosigkeit, die sich aufgrund funktioneller Beeinträchtigungen und einer Stigmatisierung entwickeln kann.

 

Wichtiger Beitrag zur Entwicklung neuer Versorgungsstrukturen

Den dringenden Nachholbedarf hinsichtlich fundierter Behandlungs- und Betreuungskonzepte unterstreicht auch Dr. Bärbel-Maria Kurth vom Robert Koch-Institut, die sich zu dem Ulmer Projekt äußert: „Die aktuellen Ergebnisse unseres Instituts aus Gesundheitssurveys für in Deutschland lebende Erwachsene (DEGS) zeigen im Vergleich zu 1998 einen Anstieg der Häufigkeit von Adipositas. Insbesondere bei jüngeren Erwachsenen (im Alter von 18 bis 39 Jahren) hat die extreme Form des Übergewichts stark zugenommen, was die bereits im Kinder- und Jugend-Gesundheitssurvey mit Besorgnis beobachtete Entwicklung fortsetzt. Für diese Krankheit gibt es kaum wirkungsvolle therapeutische Ansätze, noch haben Präventionsmaßnahmen auf Bevölkerungsebene bislang nachhaltige Ergebnisse gezeigt. Die zu erwartenden Ergebnisse aus dem Verbundprojekt können einen wichtigen Beitrag liefern zur Entwicklung neuer Versorgungsstrukturen für diese besondere Patientengruppe in unserer Gesellschaft.“

 

Trotz der folgenreichen Auswirkungen einer extremen Adipositas im Jugendalter ist diese Gruppe medizinisch schwer zu erreichen und zu behandeln. „Nur ein kleiner Prozentsatz sucht aktiv nach einer Behandlung. Die Gründe hierfür sind bisher kaum verstanden“, gibt Prof. Wabitsch zu bedenken.

Die Wissenschaft geht zurzeit davon aus, dass u.a.

  • das junge Alter
  • ein überwiegend niedriger Bildungs- und Sozialstatus
  • erfolglose Versuche Gewicht abzunehmen (Frustration)
  • psychische Begleiterkrankungen
  • eine eingeschränkte körperliche Mobilität

wichtige Faktoren sind.

 

Das Angebot von Professor Wabitsch und seinem Team, zu dem in Ulm Dr. Anja Moss, Dr. Belinda Lennerz, Dr. Helmut Weyhreter und Sigrid Räkel-Rehner gehören, richtet sich an Jugendliche im Alter von 14 bis 21 Jahren, die einen BMI (Body-Mass-Index) über 30 kg/m2 haben.

Im Rahmen eines Drei-Phasen-Programms verfolgen alle beteiligten Kliniken die Ziele

  • Steigerung des Selbstwertgefühls
  • frühzeitige Diagnose und Behandlung von Folgeerkrankungen
  • Integration in den Ausbildungs- bzw. Arbeitsmarkt.

 

Drei-Phasen-Programm

 

  1. In Phase eins wird dem betroffenen Jugendlichen eine umfassende Untersuchung des körperlichen und psychischen Gesundheitszustandes angeboten. Es werden die Lebensbedingungen, die psychosoziale Situation und die gesundheitsbezogene Lebensqualität dieser speziellen Patientengruppe charakterisiert. Dies gibt Einblicke in die speziellen Bedürfnisse dieser Risikogruppe. Die Ergebnisse helfen, die weitere Betreuung zu verbessern.

2.  Die geplante Intervention in Phase zwei fokussiert nicht vorrangig auf eine Gewichtsabnahme, sondern soll Fertigkeiten vermitteln, die bei der Eingliederung in den Ausbildungs- bzw. Arbeitsmarkt helfen sowie das Selbstwertgefühl steigern sollen.

3.  Schließlich wird dem Jugendlichen in Phase drei eine individuelle Therapie vorgeschlagen. Für manche Jugendliche führt dies bis hin zum adipositas-chirurgischen (bariatrisch-chirurgischen) Eingriff. Die bariatrische Chirurgie ist die einzige Therapieoption, die hinsichtlich eines bedeutsamen Gewichtsverlusts bei extrem adipösen Jugendlichen als effektiv angesehen werden kann. Sie wird momentan nur als experimentelle Therapie bei Jugendlichen angewendet, die Zahl operierter Jugendlicher in Deutschland steigt aber stetig. Aufgrund der möglichen Letalität und der assoziierten hohen Langzeit-Risiken ist dies eine besorgniserregende Entwicklung. Prof. Wabitsch: „Wir werden strenge Indikationskriterien für diese Maßnahme anwenden und dann systematisch die Sicherheit und Wirksamkeit einer bariatrisch-chirurgischen Maßnahme bei Jugendlichen mit extremer Adipositas im Rahmen eines strukturierten prä- und post-operativen Betreuungsprogramms untersuchen.“

 

Verlaufsbeobachtung über einen Zeitraum von neun Jahren

Alle Jugendlichen, die an dem Programm teilnehmen, sollen im Rahmen einer Verlaufsbeobachtung untersucht werden, die insgesamt mindestens neun Jahre laufen soll. Prof. Wabitsch: „Wir werden dadurch Einblick erhalten in den natürlichen Verlauf der extremen Adipositas im Jugendalter. Wir werden des Weiteren Sub-Analysen durchführen, welche die Behandlungsoptionen berücksichtigen, die diese Jugendlichen angewandt haben. Wir werden den Prozentsatz der Patienten bestimmen, welche in den Arbeitsmarkt oder in eine Ausbildungsstelle integriert werden konnten. Im Rahmen des vom Ministerium geförderten Kompetenznetz-Adipositas planen wir in unserem Verbundprojekt ein Versorgungsnetzwerk aufzubauen, in dem kompetente Fachleute verschiedener Einrichtungen klinische Diagnostik, Beratung, Hilfestellung und Behandlungsmöglichkeiten für die betroffenen Personen anbieten.“

 

Weitere Informationen:

Weitere Informationen zum Kompetenznetz Adipositas gibt es im Internet unter www.kn-adipositas.de. Die Arbeit von Professor Wabitsch und seinem Team wird unter www.adipositasforschung-ulm.de ausführlich erläutert. Die Datendokumentation und -verarbeitung wird durch Prof. Dr. Reinhard Holl und sein Team, Institut für Epidemiologie und Medizinische Biometrie in Ulm, durchgeführt.

 

Kontakt:

Prof. Dr. Martin Wabitsch

Koordinator des BMBF-Verbundprojektes „Jugendliche mit extremer Adipositas“

Interdisziplinäre Hochschulambulanz für Adipositas

Eythstr. 24

89075 Ulm

E-Mail: martin.wabitsch@uniklinik-ulm.de

 

Fotos und Grafiken sind nur für die Presseberichterstattung über das in dieser Information mitgeteilte Ereignis freigegeben.

Prof. Dr. Martin Wabitsch (Foto: Universitätsklinikum Ulm)