Einmalig im deutschsprachigen Raum und ein Glücksfall für betroffene Eltern

Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie / Psychotherapie bietet Spezialsprechstunde zu einem seltenen Gendefekt an

Nina ist acht Jahre alt und schwerstpflegebedürftig. Sie kann nicht sprechen und nicht lesen, beherrscht jedoch 20 Gesten. Als Säugling zeigte Nina einen schwach ausgeprägten Saugreflex. Als Kleinkind wies sie eine auffällige Muskelschwäche auf und besuchte später einen integrativen Kindergarten. Gehen hat Nina erst spät gelernt.

Die Eltern sind stolz auf ihre Tochter – die dank guter Förderung kontinuierlich dazulernt – und froh, dass sie bereits sehr früh wussten, was ihr fehlt. Einem Problem, das sich benennen lässt, kann man sich nämlich mit ganzer Kraft stellen. Als Nina zehn Monate alt war, wurde eine aufwändige genetische Untersuchung durchgeführt. Ergebnis: Phelan-McDermid Syndrom (PMS). Dahinter verbirgt sich ein seltener Gendefekt, von dem bis heute die meisten Mediziner noch nicht mal etwas gehört haben. So erging es vor zwei Jahren auch Prof. Dr. Andrea Ludolph, Oberärztin in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm und Leiterin der Institutsambulanz. Heute ist sie im deutschsprachigen Raum wohl die Medizinerin, die in ihren Untersuchungsräumen die meisten Kinder und Jugendlichen mit Phelan-McDermid Syndrom persönlich kennengelernt und intensiv untersucht hat. Dafür hat die Klinik eigens eine Spezialsprechstunde eingerichtet – die in Europa ohne Beispiel ist – und sich für betroffene Eltern mehr und mehr als echter Glücksfall herausstellt.

 

 

Der Anfang ist gelungen

Wie viele Kinder mit diesem Gendefekt müsste Frau Professor Ludolph theoretisch noch in Ulm begrüßen, bis sie alle gesehen hat? Das kann niemand sagen. Studien und wissenschaftlich belastbare Zahlen zur Häufigkeit der Erkrankung gibt es noch nicht. Vermutet wird, dass weltweit gesehen sicher tausende Kinder betroffen sein könnten, bekannt sind bislang weltweit erst 800. In Deutschland weiß Andrea Ludolph von ca. 80 Kindern. Die Dunkelziffer dürfte jedoch um ein Vielfaches höher liegen. Das hängt auch damit zusammen, dass die Möglichkeiten umfassender genetischer Untersuchungen erst langsam ins Blickfeld rücken. Es gibt sehr wahrscheinlich viele Eltern, deren Nachwuchs von genau diesem Syndrom betroffen ist, ohne dass sie es wissen. „Geistige Behinderung“ heißt es dann ebenso pauschal wie unscharf.

„Wir stehen noch ganz am Anfang, aber der ist uns gut gelungen“, sagt Frau Professor Ludolph, die nicht nur eng mit Ninas Eltern, sondern bereits mit über 20 weiteren betroffenen Familien kooperiert. Zusammen haben sie die Phelan-McDermid-Gesellschaft e.V. ins Leben gerufen (www.22q13.info). Die Medizinerin und Ninas Vater gehören dem insgesamt fünfköpfigen Vorstand an.

 

Erkenntnisse der Grundlagenforschung halten Einzug in die klinische Praxis

Die Forschung zum Phelan-McDermid Syndrom ist jedoch bereits viel länger auf eine grundlegendere Weise mit der Ulmer Universitätsmedizin verbunden. Bereits 1999 entdeckte der Synapsenforscher Prof. Dr. Tobias Böckers, Direktor des Instituts für Anatomie und Zellbiologie an der Universität Ulm, ein Protein, das von einem Gen kodiert wird, das auf Chromosom 22 liegt. Fehlt dem Chromosom 22 ein Segment am „Ende des langen Arms“, fehlt unter anderen auch das betreffende Gen. Dieser Gendefekt konnte schließlich im Zuge weiterer (auch internationaler) Forschungstätigkeiten als ein Faktor für die Entwicklung von autistischen Spektrumsstörungen identifiziert werden, die zu dem weiten Feld so genannter neuronaler Entwicklungsstörungen gehören. „Es ist schon eine Besonderheit, dass ein Wissenschaftsstandort die Erkenntnisse der Grundlagenforschung und deren Umsetzung in den klinischen Alltag derart konsequent verkörpert“, sagt Andrea Ludolph zu diesem „Ulmer Weg“.

 

 

Ungeheure Erleichterung

Für Nina und ihre Eltern bedeutet das Angebot einer Spezialsprechstunde für Kinder mit Phelan-McDermid Syndrom in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie eine ungeheure Erleichterung. „Früher haben wir uns oft allein gefühlt. Wir mussten ja oft den Ärzten erklären, was das Phelan McDermid Syndrom ist. Mit dem Ulmer Angebot werden die vielfältigen Fragestellungen nun mit großer Zielgerichtetheit in Angriff genommen“, ist Ninas Vater überzeugt und ergänzt: „Eltern kann im günstigen Fall und nach intensiver Diagnostik beispielsweise die große Unsicherheit bezüglich Weitergabe des Gendefekts an Geschwisterkinder genommen werden. Mit einer Krankheit, die bekannt ist und einen Namen hat, kann man zudem besser umgehen und Auffälligkeiten behandeln – natürlich immer im Rahmen des jeweils Möglichen. Ganz abgesehen davon hat die eindeutige Zuordnung in die Kategorie Erbkrankheit auch positive Auswirkungen auf die sozialrechtliche Situation der betroffenen Kinder.“

 

 

Genetische Abklärung ist empfehlenswert

„Therapie“ ist das Stichwort für Frau Professor Ludolph: „Es lohnt sich in jedem Fall, Kinder mit einer autistischen Spektrumsstörung und/oder geistigen Behinderung gezielt genetisch untersuchen zu lassen. Auch das Erbgut der Eltern sollte entsprechend ins Visier genommen werden. Je eher Klarheit herrscht, umso früher kann eine gezielte therapeutische Förderung des betroffenen Kindes einsetzen, davon profitiert es dann sein ganzes weiteres Leben.“

Die genetische Abklärung sei auch deshalb wichtig, weil die Krankheitssymptome sehr unterschiedlich sein können. Eindeutig ist anfangs nichts. Manche Kinder können beispielsweise sprechen, andere haben mit Anfallsleiden oder einer massiven motorischen Hyperaktivität zu kämpfen. Phelan-McDermid kann die Fähigkeit zum Schwitzen vermindern und große, weiche Hände hervorbringen. Eine hohe Schmerztoleranz und autistische Verhaltensweisen sind möglich, aber nicht zwingende und alleinige Kennzeichen des Gendefekts. In Ulm wird dieser Vielfältigkeit der Symptome in einem interdisziplinären Team aus Kinderpsychiatrie und Psychologie, Kinderkardiologie, Kinderurologie, Kinderorthopädie, Genetik und Zellbiologie Rechnung getragen.

„Unsere Tochter ist jetzt acht Jahre alt. Wenn ich zurückblicke, kann ich sagen, dass sich in diesem Zeitraum sehr viel zum Positiven gewendet hat. Das Wissen über diesen Gendefekt wächst ständig. Darüber sind meine Frau und ich sehr froh, denn das kommt den Familien und ihren betroffenen Kindern zugute“, so Ninas Vater.

 

 

Weitere Informationen:

Die Spezialsprechstunde für Kinder mit (möglichem) Phelan-McDermid-Syndrom und ihre Familien ist in der Institutsambulanz der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie angesiedelt: http://www.uniklinik-ulm.de/struktur/kliniken/kinder-und-jugendpsychiatriepsychotherapie/home/leistungen/ambulanzen/spezialambulanzen.html#c96847.

Sprechstunden: dienstags von 8:00 Uhr bis 17:00 Uhr nur nach Vereinbarung. Die Rufnummer lautet: 0731 500-61636. Per E-Mail ist die Ambulanz unter Phelan-McDermid.KJP@uniklinik-ulm.de zu erreichen. Die Anschrift lautet Krankenhausweg 3, 89075 Ulm.

Die Phelan-McDermid-Gesellschaft e.V. ist im Internet unter www.22q13.info zu finden. Namensgeber des Phelan-McDermid Syndroms sind die beiden Forscherinnen Dr. Katy Phelan (Tulane University School of Medicine New Orleans, USA) und Dr. Heather McDermid (University of Alberta, Canada), die einen Zusammenhang zwischen einem Gendefekt auf Chromosom 22 und den medizinischen Auswirkungen herstellten. Ein Durchbruch, der u. a. möglich wurde, weil Jahre zuvor der Ulmer Grundlagenforscher Prof. Dr. Tobias Böckers das verursachende Protein auf Chromosom 22 entdeckt hatte.

Gerne vermitteln wir Ihnen Gesprächspartner. Das unten angehängte Foto zeigt Nina von links: Claudia Lührs da Silva, Ärztin in der PMS-Sprechstunde, Dr. Dr. Michael Schmeisser, wiss. Mitarbeiter im Institut für Anatomie und Zellbiologie, Prof. Dr. Tobias Böckers, Direktor des Instituts für Anatomie und Zellbiologie, Michael Schön, wiss. Mitarbeiter im Institut für Anatomie und Zellbiologie, Prof. Dr. Andrea Ludolph, Leiterin der PMS-Sprechstunde, Hanife Kling, Sekretariatsleitung der Institutsambulanz an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Dr. Julia Mühlberger, Institut für Humangenetik. (Foto: Universitätsklinikum Ulm).

 

Fotos und Grafiken sind nur für die Presseberichterstattung über das in dieser Information mitgeteilte Ereignis freigegeben.

 

 

 

Von links: Claudia Lührs da Silva, Ärztin in der PMS-Sprechstunde, Dr. Dr. Michael Schmeisser, wiss. Mitarbeiter im Institut für Anatomie und Zellbiologie, Prof. Dr. Tobias Böckers, Direktor des Instituts für Anatomie und Zellbiologie, Michael Schön, wiss. Mitarbeiter im Institut für Anatomie und Zellbiologie, Prof. Dr. Andrea Ludolph, Leiterin der PMS-Sprechstunde, Hanife Kling, Sekretariatsleitung der Institutsambulanz an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Dr. Julia Mühlberger, Institut für Humangenetik. (Foto: Universitätsklinikum Ulm).