Bisher ist die erbliche Huntington-Krankheit unheilbar: Betroffene fallen durch unwillkürliche Bewegungen und zunehmenden körperlichen sowie geistigen Verfall auf. Doch nun setzen von der Huntington-Krankheit betroffene Familien ihre Hoffnung in eine neue Therapie: Der Wirkstoff Ionis-HTT-Rx (RG6042) soll die Belastung des Gehirns durch die schadhaften Huntingtin-Genprodukte reduzieren. Erstmals hat ein internationales Konsortium, darunter Forschende aus Ulm, Bochum und Berlin, die Verträglichkeit des Wirkstoffs an Patientinnen und Patienten überprüft. Die Ergebnisse der in Deutschland vom Ulmer Neurologen Professor G. Bernhard Landwehrmeyer geleiteten Studie sind im renommierten „New England Journal of Medicine“ erschienen.
Lange Zeit war keine ursächliche Therapie für die Huntington-Krankheit in Sicht: Betroffene erlebten nicht nur, wie Verwandte erkrankten und schließlich verstarben. Auch sie selbst mussten befürchten, zum Pflegefall zu werden. Doch inzwischen haben vielversprechende klinische Studien begonnen, die erstmals in den Verlauf der Huntington-Krankheit eingreifen: So soll das Medikament Ionis-HTT-Rx (RG6042) die Nachbildung des schadhaften Eiweißes Huntingtin bremsen. Dazu haben die Forschenden einsträngige DNA-Moleküle hergestellt, die passgenau an die Boten-RNA (mRNA) im Zellkern der Patienten binden, zu einem Abbau der mRNA führen und auf diese Weise die Herstellung des schadhaften Eiweißes verhindern. Unter der Gesamtleitung des „University College London“ ist nun die Verträglichkeit dieses Antisense-Oligonukleotids getestet worden. In Deutschland beteiligt waren die Universitätsklinik Ulm für Neurologie/Universitäts- und Rehabilitationskliniken Ulm (Professor G. Bernhard Landwehrmeyer), das Huntington-Zentrum NRW am St. Josef-Hospital – Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum (Professor Carsten Saft) und die Charité – Universitätsmedizin Berlin (Professor Josef Priller).
Die Verträglichkeit des Medikaments ist an 46 Patientinnen und Patienten mit der Huntington-Krankheit überprüft worden. Dabei wurde der Wirkstoff 34 Personen per Lumbalpunktion direkt ins Nervenwasser verabreicht, und 12 Studienteilnehmende erhielten ein Placebo. Bei den mit Ionis-HTT-Rx (RG6042) behandelten Probanden ist die Dosis in verschiedenen Kohorten schrittweise gesteigert worden.
Insgesamt berichtete keiner der Patienten schwere Nebenwirkungen. Einige klagten über leichte Kopfschmerzen, die jedoch auch in der Plazebo-Gruppe auftraten. „Dies ist die typische Nebenwirkung einer Lumbalpunktion, und ist nicht auf den Wirkstoff zurückzuführen“, erklärt Carsten Saft, Leiter des klinischen Bereichs am Bochumer Huntington-Zentrum.
Die Forschenden haben außerdem nachgewiesen, dass das Medikament die Menge des Proteins Huntingtin im Nervenwasser verringert – ein Hinweis, dass die Substanz so wirkt wie beabsichtigt. Diese Beobachtung bestätigte sich auch im Mausmodell. „Wir hoffen, dass die Huntington-Krankheit dank des Medikaments weniger schnell verläuft und sich vielleicht sogar Symptome zurückbilden“, erklärt Professor G. Bernhard Landwehrmeyer. Aufgrund der kurzen Behandlungsdauer liefere die nun veröffentlichte Studie jedoch noch keine verlässlichen Hinweise auf die klinische Wirksamkeit.
In diesen Tagen hat eine vom gleichen Pharmaunternehmen (F. Hoffmann-La Roche) finanzierte Untersuchung begonnen, in der die klinische Wirksamkeit von Ionis-HTT-Rx (RG6042) überprüft wird. Für die weltweite Studie „Generation HD-1“ sollen etwa 660 Patienten rekrutiert werden, denen das Medikament über zwei Jahre in regelmäßigen Abständen per Lumbalpunktion direkt in das Nervenwasser verabreicht wird. Diese plazebo-kontrollierte Phase-III-Studie wird in Deutschland von Professor Landwehrmeyer von der Ulmer Universitätsklinik für Neurologie (Leitung: Professor Albert C. Ludolph) koordiniert: eine Behandlungsgruppe wird das Medikament alle zwei Monate erhalten und eine weitere Gruppe alle vier Monate. So gewinnen die Forschenden – neben der Wirksamkeit – Informationen zur optimalen Dosierung und zur Langzeitverträglichkeit von Ionis-HTT-Rx (RG6042).
Anhand dieser Daten wollen die Mediziner auch Auffälligkeiten untersuchen, die sie bislang nicht eindeutig interpretieren konnten, beispielsweise eine im Zuge der Verträglichkeitsstudie beobachtete Veränderung der Hirnventrikel. „Sollte die Verringerung des Proteins Huntingtin gelingen, kann man auch über eine Behandlung noch nicht erkrankter Familienmitglieder nachdenken, die die entsprechende genetische Veränderung in sich tragen“, blickt G. Bernhard Landwehrmeyer in die Zukunft. Doch selbst wenn die klinischen Studien optimal verlaufen und das Medikament eines Tages zugelassen wird, müsste es – wie bei anderen chronischen Erkrankungen auch – regelmäßigt verabreicht werden. Eine „Heilung“ der Huntington-Krankheit, beispielsweise durch gentherapeutische Behandlungen, liegt noch in weiterer Ferne.
Über die Huntington-Krankheit
Bei der Huntington-Krankheit liegt eine Mutation in einem einzigen Gen vor, die dazu führt, dass eine schadhafte Form des Proteins Huntingtin erzeugt wird. Betroffene leiden typischerweise an unwillkürlichen Überbewegungen. Außerdem kommt es häufig zu psychischen und kognitiven Veränderungen bis zur Demenz. Die Krankheit wird autosomal-dominant vererbt: Jeder Nachkomme eines Huntington-Patienten hat also eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, selbst Mutationsträger zu sein und zu erkranken. Oftmals bricht die Erkrankung um das 40. Lebensjahr aus und führt nach durchschnittlich 21 Jahren und meist langer Pflegebedürftigkeit zum Tod. Die zugrundeliegende Erbgutveränderung lässt sich mit einem Gentest nachweisen. Bisher sind jedoch nur symptomlindernde Medikamente zugelassen.
Huntington-Forschung und -Behandlung in Ulm
Im Huntington-Zentrum der Abteilung Neurologie (Leiter: Prof. Albert C. Ludolph) der Ulmer Universitätsmedizin werden rund 500 Patientinnen und Patienten regelmäßig betreut. Das Huntington-Zentrum Ulm ist Sitz der zentralen Koordinationsstelle des europäischen Huntington-Netzwerkes, das 2004 von Professor G. Bernhard Landwehrmeyer gegründet und von 2004 bis 2014 auch geleitet wurde. Darüber hinaus ist Professor Landwehrmeyer Leiter der weltweiten, prospektiven Kohorten-Studie „Enroll-HD“ mit über 21 000 Teilnehmern, die wichtige Einblicke in den natürlichen Krankheitsverlauf der Huntington-Krankheit bietet.
2018 hat ein neuer Standort des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Ulm die Arbeit aufgenommen (Standortsprecher Professor Albert C. Ludolph); Schwerpunkt des DZNE-Standorts Ulm sind seltenere neurodegenerative Erkrankungen wie die Huntington-Krankheit. Die Universitätsmedizin bringt neben einem großen Patientenkollektiv Biomaterialien und viel Erfahrung in klinischen Studien ein
Weitere Informationen:
Prof. Dr. G. Bernhard Landwehrmeyer
Huntington-Zentrum Ulm
Universitätsmedizin Ulm/Universitäts- und Rehabilitationskliniken Ulm (RKU)
0731 500 63101
bernhard.landwehrmeyer@uni-ulm.de
Sarah J. Tabrizi et al.: Targeting Huntingtin expression in patients with Huntington’s Disease, in: New England Journal of Medicine, 2019, DOI: 10.1056/NEJMoa1900907
https://www.nejm.org/doi/10.1056/NEJMoa1900907