Mit einem Appell „Exklusion beenden: Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen und ihre Familien!“ hat sich heute ein breites Bündnis von Akteuren aus der Kinder- und Jugendhilfe, Behindertenhilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Pädiatrie, aus Wissenschaft, Praxis und Politik an die Bundespolitik gewandt. Der Appell wurde auf einer Pressekonferenz in Berlin vorgestellt.
Das Bündnis kritisiert, dass das derzeitige Sozialrecht über eine viertel Million Kinder und Jugendliche mit körperlicher und geistiger Behinderung ausgrenzt. Diese Kinder und ihre Familien sind nicht, wie alle anderen Kinder, Jugendlichen und Eltern, in der Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe. Die Bündnisinitiative setzt sich für eine Aufnahme aller Kinder und Jugendlichen in das Kinder- und Jugendhilferecht ein. Vom zuständigen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erwarten sie einen solchen Vorstoß, wenn im September im dort stattfindenden Dialogprozess zur Änderung des SGB VIII über Inklusion diskutiert wird.
„Junge Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung werden vom Recht nicht in erster Linie als Kinder oder Jugendliche betrachtet, die in ihrer Familie aufwachsen und deren Entwicklung von vielfältigen Faktoren und nicht nur von ihrer Behinderung beeinflusst wird. Das Recht ordnet sie vielmehr wie kleine Erwachsene in das System der Eingliederungshilfe ein. Damit erhalten diese jungen Menschen und ihre Familien nicht die Förderung, die sie brauchen, was zu Benachteiligungen führt,“ sagte die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ, Prof. Dr. Karin Böllert. Darüber hinaus belegen aktuelle Zahlen eine Abnahme von gewährten Leistungen bei zunehmendem Alter für Kinder mit körperlicher oder geistiger Behinderung und ihren Familien. Während bis zum Eintritt in die Schule über heilpädagogische Leistungen in Kindertagesstätten (2017 an 175.690 Kinder) und vor allem in Frühförder- und Beratungsstellen (jährlich etwa 120.000 Kinder) die Familien noch relativ gut unterstützt werden, belegen die Zahlen zur Inanspruchnahme von Eingliederungshilfe, dass ab dem Schulalter fast nur noch ambulante Leistungen mit Schulbezug gewährt werden. Im Jahr 2017 wurden in ambulanter Form solche Leistungen an 38.825 Kinder und Jugendliche erbracht, an 35.310 Minderjährige in Internaten. Das liegt u.a. daran, dass in der Eingliederungshilfe das Einkommen und Vermögen der Eltern in hohem Maß für Kostenbeiträge herangezogen werden. Während in der Kinder- und Jugendhilfe die ambulanten Hilfen kostenfrei sind, müssten Eltern mit einem körperlich oder geistig behinderten Kind alle ambulanten Hilfen, die nicht unmittelbar mit der schulischen Bildung zusammenhängen, selbst tragen. Das führt zu hohen finanziellen Aufwendungen für Eltern mit einem körperlich oder geistig behinderten Kind. Obwohl diese Familien weiterhin stark belastest sind, weist die Eingliederungshilfestatistik nur Hilfen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben an gut 8.000 Kinder und Jugendliche mit körperlicher oder geistiger Behinderung aus.
Das Bündnis kritisiert, dass trotz der UN-Behindertenrechtskonvention und dem Grundrecht auf Gleichbehandlung immer noch künstlich zwischen „Jugendhilfe“-Kindern und „Eingliederungshilfe“-Kindern unterschieden wird. Junge Menschen ohne Beeinträchtigung oder mit einer seelischen Behinderung erhalten Leistungen – auch Leistungen der Eingliederungshilfe oder kombinierte Leistungen – nach dem Kinder- und Jugendhilferecht. Dagegen sind junge Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen der
Eingliederungshilfe zugeordnet und die Leistungen dort entsprechen vielfach nicht dem gleichen, bedarfsgerechten Standard. Prof. Dr. Jörg Fegert vom Uni-Klinikum Ulm führte dazu aus: „Man kann Menschen nicht einfach in die Schubladen körperliche oder geistige oder seelische Behinderung stecken, da man dies im wirklichen Leben eben oft nicht so sauber trennen kann. Die Beeinträchtigung von Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben resultiert häufig gerade aus der Kombination verschiedener Belastungen.“
Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, kritisierte, dass mit Kindern „immer wieder Intelligenztests durchgeführt werden, weil die Zuständigkeitsgrenze an einem IQ-Wert von 69 verläuft. Unsere Fachkräfte berichten von Eltern, die mit ihrem Antrag auf Hilfe mehrfach zu Gutachtern geschickt werden und immer wieder zwischen den unterschiedlichen Behörden hin- und hergeschoben werden. Das schreckt ab, frustriert und es geht nicht zuletzt wertvolle Zeit verloren. Das können wir selbst bei einer inklusiven Ausrichtung unserer Einrichtungen und Dienste nicht ausgleichen.“ Ein Kind mit körperlicher oder geistiger Behinderung erhalte Leistungen nach der Eingliederungshilfe, aber Eltern und Geschwister seien dabei nicht im Blick. Die Problematik werde deutlich, wenn z.B. einem Kind mit Hörbehinderung zwar die Teilnahme an einem Gebärdensprachkurs genehmigt, der Kurs für die Eltern aber abgelehnt werde. Eltern und ihre Kinder mit Behinderung haben vor diesem Hintergrund eklatante Schwierigkeiten, die ihnen zustehenden, bedarfsgerechten Hilfen zu erhalten und ihre Rechte durchzusetzen. Das ist fachlich nicht tragbar und mit den Grundsätzen unserer Rechtsordnung nicht vereinbar.
Nachdrücklich schilderte Kerrin Stumpf aus dem Alltag ihrer Familie mit Sohn Pelle: „Pelle ist komplex behindert infolge eines Sauerstoffmangels bei der Geburt. Das hindert ihn nicht, sich als „normales“ Kind wahrzunehmen, mit Eigenarten und von seinen Eltern genauso geliebt. Er hat die Überforderung seiner Eltern erlebt im Dschungel der Antragsstellungen, auf der Suche nach Informationen und überfordert im Alltag. Inklusion erlebt er wie viele Kinder mit einer „klassischen“ Behinderung fast nur mit der Familie und etwas in der Schule. Angebote am Nachmittag, Hilfen zur unterstützten Kommunikation, Sport oder die schrittweise Emanzipation aus dem Elternhaus als Teenager – das müssen wir alles selbst organisieren oder es findet nicht statt. Angebote der Jugend- und Erziehungshilfe stehen ihm und uns nicht zur Verfügung.“
Der Sozialdezernent im Kreis Steinfurt Tilman Fuchs betonte daraufhin: „Wir wollen als Kreis, dass unser Jugendamt für die Betreuung aller Kinder und ihrer Familien zuständig ist und helfen kann, weil das fachliche Herangehen unseres Sozialamts einfach anders und für diese weniger passend ist. Die aktuelle Gesetzeslage produziert untragbare Zustände. In der Kinder- und Jugendhilfe wird immer das ganze System Familie in den Blick genommen. Für die Entwicklung von allen Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung ist es wichtig, dass auch für die Eltern und Geschwister Entlastung ermöglicht wird und ihre Sorgen und Bedarfe ebenfalls in den Blick genommen werden.“
Derzeit läuft auf Bundesebene ein Dialogprozess. Am 17. September hat Frau Dr. Giffey Kinder mit Behinderung und ihre Eltern ins BMFSFJ eingeladen, anschließend kommt eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe zur Beratung möglicher gesetzlicher Änderungen zusammen. Die Niedersächsische Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, Dr. Carola Reimann, betonte bei der Pressekonferenz in Berlin, dass die Jugendressorts der Landesregierungen aus Baden-Württemberg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen den Appell mitgezeichnet haben. Der Bund müsse das Thema endlich entschieden anpacken und bestehende Diskriminierungen beseitigen. Eine solche Weichenstellung sei erforderlich, um Verbesserungen für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und ihre Familien durchsetzen zu können.
Für Rück- und Interviewanfragen mit Expert*innen und Betroffenen wenden Sie sich bitte an:
Dr. Thomas Meysen | Bündnis-Kommunikation
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