Gewalt gehört in allen Ländern der Erde und in allen gesellschaftlichen Gruppen für viele Kinder noch immer zum Alltag. Weltweit sind jedes Jahr eine Milliarde Kinder und Jugendliche zwischen zwei und 17 Jahren von physischer, sexueller oder psychischer Gewalt betroffen – das ist jedes zweite Kind.
Schockierende Verbrechen an Kindern, wie zuletzt in Münster oder Lügde, finden punktuell große Beachtung. Gleichzeitig bleiben die vielen alltäglichen Gewalterfahrungen, die Kinder in ihrem nahen Umfeld wie ihren Familien, in der Kita, in der Schule oder im Internet erleiden, weitgehend unsichtbar. Bis heute werden diese häufig stillschweigend akzeptiert, heruntergespielt oder sogar gerechtfertigt. Die betroffenen Mädchen und Jungen haben zu oft niemanden, dem sie sich anvertrauen können und werden häufig nicht ernst genommen.
Anlässlich des 20. Jahrestages der Verabschiedung des Rechts auf eine gewaltfreie Erziehung in Deutschland am 6. Juli ruft UNICEF Deutschland gemeinsam mit der UN-Sonderbeauftragten zu Gewalt gegen Kinder Najat Maalla M’jid und dem Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeuten und Präsidenten der Deutschen Traumastiftung Jörg Fegert dazu auf, den Schutz der Kinder vor Gewalt endlich umfassend zu verwirklichen – in Deutschland und weltweit.
Das Ausmaß alltäglicher Gewalt gegen Kinder ist bis heute erschreckend:
- Häufig wird Gewalt gerade durch die Menschen ausgeübt, die für den Schutz der Kinder verantwortlich sind und beginnt sehr früh. So erleben weltweit allein drei von vier Kindern zwischen zwei und vier Jahren zu Hause körperliche oder psychische Gewalt durch ihre Erziehungsberechtigten.
- Schätzungsweise 1,1 Milliarden Eltern und Erziehungsberechtigte halten Schläge und Körperstrafen für ein notwendiges Disziplinierungsmittel. Bis heute lebt nur rund eins von zehn Kindern unter fünf Jahren in einem Land, in dem die körperliche Bestrafung durch Erziehungsberechtigte vollständig verboten ist.
- In Deutschland haben Kinder seit 20 Jahren das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. Dies hat geholfen, Einstellungen und Erziehungspraktiken zu verändern. Trotzdem gehört Gewalt nach Einschätzung führender Kinder- und Jugendpsychiater weiter zu den häufigsten frühen Kindheitsbelastungen.
- Auch in Deutschland berichten einer Untersuchung von 2017 zufolge etwa 31 Prozent der Befragten, dass sie eine Form von Misshandlung mit mindestens moderatem Schweregrad erfahren hatten.
- Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und ihre Folgen haben überall auf der Welt den Stress in Familien erhöht und dazu geführt, dass gefährdete Kinder aus dem Blick gerieten und ihr Zugang zu Hilfsangeboten erschwert wurde.
„Gewalt kann langanhaltende Narben im Leben von Kindern hinterlassen“, erklärte die UN-Sonderbeauftragte zu Gewalt gegen Kinder, Dr. Najat Maalla M’jid. „Die Covid-19-Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung haben für Kinder das Risiko erhöht, dass sie Gewalt in ihrem Zuhause, online und in ihrem Umfeld erfahren. Insbesondere für Kinder, die bereits zuvor gefährdet waren, haben sich die Risiken verschärft. Außerdem waren und sind grundlegende Unterstützungsangebote, um Gewalt zu verhindern und darauf zu reagieren, genau zu dem Zeitpunkt eingeschränkt, an dem Kinder sie am dringendsten benötigen.“
Gewalt bedeutet für Kinder massive Stresssituationen, die ihre psychische und körperliche Gesundheit stark beeinträchtigen können. Dies gilt auch für die am wenigsten sichtbaren und gleichzeitig häufigsten Gewaltformen wie emotionale Misshandlung und Vernachlässigung. So entwickeln Kinder, die Gewalt erfahren, oft ein geringeres Selbstvertrauen und leiden häufiger unter Angst oder Depressionen. Die Gewalt kann zudem ihre Fähigkeiten zu lernen und positive Beziehungen einzugehen beeinträchtigen. Langfristig können unter anderem ein niedrigerer Bildungsgrad und ein geringeres Einkommen die Folge sein.
„Kinder dürfen niemals Gewalt erfahren – denn Gewalt ist auch ein Angriff auf ihre Würde“, sagte Georg Graf Waldersee, Vorsitzender von UNICEF Deutschland. „Wir müssen alle mehr tun, um die unsichtbare Gewalt hinter den Fassaden sichtbar zu machen. Zur wirksamen Prävention von Gewalt ist es entscheidend, das Bewusstsein für die Rechte von Kindern in der ganzen Gesellschaft zu stärken. Die Aufnahme der Kinderrechte in die Verfassung wird einen wichtigen Beitrag leisten, um auch den Kinderschutz voranzubringen.“
„Seitdem Gewalt in der Erziehung verboten wurde, hat sich das gesellschaftliche Bewusstsein in Deutschland geändert. Das ist ein wichtiger Fortschritt. Es ist jedoch sehr besorgniserregend, dass Vernachlässigung und psychische Misshandlung häufig noch immer nicht als Gewalt wahrgenommen werden. Wir müssen dieses Dunkelfeld unbedingt ausleuchten. Das Zurückdrängen alltäglicher Gewalt gegen Kinder muss endlich als Daueraufgabe unserer Gesellschaft etabliert werden“, sagte Prof. Dr. Jörg Fegert.
Mit der internationalen Kampagne „#EndViolence“ sensibilisiert UNICEF für die Gewalt, die Kinder jeden Tag erleiden und setzt sich für deren Schutz ein. Aus Sicht von UNICEF Deutschland sind im Einsatz gegen Gewalt jetzt folgende Maßnahmen besonders drängend:
- Kinderschutz angesichts der Covid-19-Pandemie stärken: Regierungen und Behörden müssen Unterstützungsangebote aufrechterhalten und ausbauen. Bei Entscheidungen zur Bekämpfung der Pandemie müssen deren Auswirkungen auf Kinder und ihre Rechte stärker priorisiert und Kinderschutz als systemrelevant anerkannt werden.
- Über das Ausmaß und die Folgen jeglicher Form von Gewalt gegen Kinder aufklären: Dass Gewalt niemals hingenommen werden darf, muss als Daueraufgabe für die ganze Gesellschaft verstanden werden. Dazu sind umfassende Sensibilisierungskampagnen und Schulungen für Jugendämter, Erziehende, Lehrende und Juristen nötig.
- Kinder in ihren Rechten stärken: Kinder müssen ihre Rechte kennen und wissen, an wen sie sich im Notfall wenden können. Die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz wäre ein wichtiger Schritt, um die Rahmenbedingungen für den Kinderschutz zu verbessern und eine Grundlage für die flächendeckend bessere Ausstattung der Kinder- und Jugendhilfe zu schaffen.