Ein bemerkenswertes Projekt zur Entwicklung und Erprobung von Spiel-Lern-Materialien haben in Ulm die Ulrich-von-Ensingen-Realschule und die Gustav-Werner-Schule gestartet. Die Gustav-Werner-Schule ist ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum, in dem Kinder mit geistiger Behinderung bzw. mit einem insgesamt besonders hohen Förderbedarf zur Schule gehen. Im Rahmen ihrer „Wochenplanarbeit“ kommen nun Schülerinnen und Schüler der 5. Realschulklasse und geistig behinderte Kinder der 4. Klasse regelmäßig zusammen, um mithilfe gewöhnlicher Spielzeugfiguren und -landschaften (z.B. ein Bauernhof mit Pferdestall, Tieren und Bäumen) und eigens entwickelten Wortkärtchen Grammatik- und Wortschatzerweiterungen in Deutsch und Englisch anzugehen.
"Spielen ist keine Spielerei"
Wissenschaftlich begleitet wird das Projekt von Dipl.-Soz.Päd. Maren Lau vom ZNL TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen. „Spielen ist keine Spielerei, sondern bietet Kindern eine ideale Möglichkeit, ganz elementare Kompetenzen auf unterschiedlichem Niveau zu erwerben“, zeigt sich die Lernforscherin überzeugt.
Kinder können selbst kontrollieren
Wie funktioniert das gemeinsame Lernen in der Praxis? Auf einem Wortkärtchen ist zu lesen: „Die Kuh steht vor dem Stall“. Ein Kind der 4. Klasse aus der Gustav-Werner-Schule setzt nun die beschriebene Situation um. Es sucht sich aus der Vielzahl von Spielmaterialien den Stall und eine Kuh heraus und platziert sie entsprechend. Ein anderes Kind bekommt diese Aufgabe: „Neben dem Stall stehen drei Pferde, durch die offene Stalltür fährt gerade ein Traktor mit Anhänger. Der Anhänger hat Heu geladen. Hinter dem Stall befindet sich eine Weide, auf der sich sieben Kühe und eine Tränke befinden“. Die Kinder der 5. Realschulklasse arbeiten nach dem gleichen Prinzip an „Prepositions“ im Englischunterricht. Kontrollieren können die Kinder ihre gestaltete Szenerie selbst, denn auf der Rückseite der Wortkärtchen ist die zu lösende Aufgabe jeweils dargestellt. Die beiden Kinder können mit diesem Spiel-Lernmaterial trotz ihrer Unterschiedlichkeit gemeinsam lernen, jedes auf seinem Leistungsniveau.
Entwickelt wurde das Konzept von Carolin Brielmaier, Lehrerin der Ulrich-von-Ensingen-Realschule, und Irmgard Fritz, Lehrerin an der Gustav-Werner-Schule. „Engagierte und kreative Lehrkräfte sind die Voraussetzung für ein solches Projekt“, sagt Lernforscherin Maren Lau, die in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass aktuellen Untersuchungen zufolge 98% der Lehrkräfte in Deutschland eine individuelle Förderung von Kindern für wichtig halten, gleichzeitig jedoch 90% dieser Lehrkräfte eine auf das einzelne Kind eingehende Förderung unter den gegebenen schulischen Rahmenbedingungen nicht für möglich halten.
Kinder mit unterschiedlichem Lernfortschritt profitieren voneinander
„Aus der Lernforschung wissen wir, dass die aktive Auseinandersetzung mit einer Sache die Verarbeitungstiefe des Gelernten steigert. Das aktuelle Projekt macht Wissen im wahrsten Sinne des Wortes ,begreifbar’. Die Kinder arrangieren selbst den Bauernhof. Sie fassen die kleine Spielzeugkuh an, stellen sie an einer bestimmten Stelle auf und lernen so zum Beispiel was die Präpositionen neben, vor oder hinter bedeuten“, erläutert Sozialpädagogin Maren Lau. Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt des gemeinsamen Projekts sei die gesicherte pädagogische Erkenntnis, dass behinderte und nicht behinderte Kinder voneinander profitieren: „Die Realschüler schulen zum Beispiel ihre Sozialkompetenz. Dazu gehören u.a. Rücksichtnahme, Teamfähigkeit, Hilfsbereitschaft und Empathie. Kinder mit Behinderung machen die ganz grundsätzliche Erfahrung der Einbeziehung und nicht der Ausgrenzung, das ist wichtig für ein positives Selbstwertgefühl, das auch zum Lernerfolg beiträgt.“
Spende ermöglichte Kauf der Spielmaterialien
Überhaupt erst möglich machte dieses Schulprojekt eine Spende der Fa. Müller + Partner (Personal- und Organisationsentwicklung) aus Ulm. Insgesamt 1000,- € stellte das Unternehmen den beiden Schulen zur Verfügung, die davon nicht nur den kleinen Bauernhof samt umfangreichen Zubehör kauften, sondern auch Sets, die eine Küche, eine Schule und ein Wohnzimmer im Miniaturformat nachbilden.
„Didaktisch aufbereitete Spiele eignen sich sehr gut zur Individualisierung von Lernprozessen. So können Kinder sehr differenziert entsprechend ihrem jeweiligen Lernvermögen erfolgreich lernen“, sagt Maren Lau. Ihr Fazit: „Die beiden Ulmer Schulen haben ein Projekt initiiert, das möglichst viele Nachahmer finden sollte.
Für uns vom ZNL ist es wunderbar, wenn das Theoriewissen wie hier von engagierten Lehrerinnen und Lehrern in die Praxis umgesetzt wird.“
Weitere Informationen:
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des ZNL TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen, ein Drittmittelprojekt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III, sind davon überzeugt, dass wir weltweit am Anfang einer Integration von Gehirn- und Bildungsforschung stehen. Seit seiner Gründung im April 2004 konzentriert sich das ZNL auf beide Forschungsrichtungen. Ein Umstand, der es ihm ermöglicht, bildungsrelevante Erkenntnisse der Neurowissenschaften von der Theorie in die Praxis zu übertragen. Das interdisziplinär arbeitende Team aus Psychologen, Pädagogen und anderen Wissenschaftlern betreibt dazu Grundlagenforschung, führt Evaluationen durch und begleitet Bildungseinrichtungen in der Weiterentwicklung ihrer pädagogischen Arbeit.
Im Internet ist das ZNL hier zu finden: www.znl-ulm.de.
Unten angehängt finden Sie ein Foto: "Kinder beider Schulen spielen und lernen gemeinsam." (Foto: Universitätsklinikum Ulm)
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