„Angststörung“, „Sucht“ oder „Konditionierung“: Wie speichert das Gehirn solche wissenschaftlichen Begriffe – und geschieht das bei Expertinnen und Experten anders als bei Laien? Eine gerade veröffentlichte Studie um den Ulmer Psychologen und Neurowissenschaftler Professor Markus Kiefer weist darauf hin, dass solche abstrakten Konzepte und wissenschaftlichen Begriffe bei beiden Personengruppen im sinnlich-erfahrungsbasierten Bereich des Gehirns verankert werden. Eine traditionellere Annahme der Psychologie lautet dagegen, dass sich die Wissensspeicherung im Lauf der akademischen Bildung hin zu abstrakteren, sprachlich-symbolischen Hirnstrukturen verlagert. Die in der Fachzeitschrift Cerebral Cortex publizierten Ergebnisse stellen diese Annahme nun in Frage.
„Im Vordergrund unserer Forschung stand die Frage nach der Art der Speicherung abstrakten wissenschaftlichen Begriffswissens, wobei wir die Verarbeitung begrifflichen Wissens im Gehirn von Expertinnen und Experten mit der von Anfängerinnen und Anfängern verglichen“, erklärt der Psychologe Professor Markus Kiefer, der die Sektion für kognitive Elektrophysiologie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III des Ulmer Universitätsklinikums leitet. „Klassische Ansätze zum Einfluss der Expertise auf die Wissensverarbeitung gehen davon aus, dass sich die Wissensspeicherung im Verlauf der akademischen Bildung von den sinnlichen, erfahrungsbasierten Systemen des Gehirns hin zu einer sprachlich-symbolischen verschiebt.“ Damit einher geht die Annahme, dass abstraktes, von konkreten Beispielen losgelöstes Denken die höchste Errungenschaft des menschlichen Geistes ist.
Im Gegensatz hierzu steht die neuere Theorie der „Verkörperten Kognition“, auf der die Studie der Ulmer Forscherinnen und Forscher aufbaute. Ihr zufolge sind wissenschaftliche Begriffe selbst bei Expertinnen und Experten in den sinnlich-erfahrungsbasierten Systemen des Gehirns gespeichert. „Aufgrund der großen Vielfalt dieser Erfahrungen ist die Verankerung dort möglicherweise sogar stärker ausgeprägt als bei Laien. Nach dieser Vorstellung ist abstraktes Wissen nur scheinbar abstrakt, beruht tatsächlich aber auf einer Reaktivierung früherer Erfahrungen“, sagt Kiefer.
In der nun in der Zeitschrift Cerebral Cortex veröffentlichten Studie hatte das Ulmer Team untersucht, wie wissenschaftliche Begriffe der Psychologie wie „Gedächtnis“ oder „Gewöhnung“ bei den unterschiedlichen Gruppen verarbeitet werden. 26 Psychologie-Studierende der Universität Ulm repräsentierten dabei die „Anfänger“, 25 Psychologinnen und Psychologen mit mindestens einem Masterabschluss sowie einer begonnenen Therapieausbildung die „Fortgeschrittenen“. Zum einen wurde dabei die individuelle Bedeutung der Begriffe für die Probandinnen und Probanden erfasst. Dazu sollten diese Eigenschaften auflisten, die sie in diesem Zusammenhang für relevant hielten – „Freunde“ etwa als Merkmal des Konzepts Empathie, „große Menschenmenge“ bei Angststörung. Zum anderen wurde die entsprechende Hirnaktivierung bei der Verarbeitung der psychologischen Fachbegriffe mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (MRT) ermittelt und mit den individuell generierten Begriffseigenschaften in Zusammenhang gebracht. Zudem wurde lokalisiert, wo die erfahrungsbasierten und sinnlichen – also mit Sehen, Bewegen und sozio-emotionalem Fühlen verbundenen – Informationen verarbeitet wurden. Dazu wurden den Probandinnen und Probanden während der MRT-Aufnahme verschiedene Aufgaben gestellt. So sollten sie Bilder von belebten und unbelebten Objekten, wie einem Hund oder einem Hammer, betrachten, auf Signal einen kleinen Ball drücken sowie emotional anrührende oder aufreibende Szenen mit Menschen oder Tieren ansehen.
Dabei zeigte sich zum einen, dass abstrakte wissenschaftliche Begriffe bei beiden Gruppen in erfahrungsbasierten Bereichen des Gehirns für Wahrnehmen, Handeln und sozio-emotionales Empfinden verarbeitet wurden. Studierende als auch Graduierte generierten zur Hälfte verbale Assoziationen, aber auch einen substanziellen Anteil an motorischen, visuellen und geschmacklichen Eigenschaften sowie solchen mit Bezug zu mentalen Zuständen, Gefühlen und sozialen Konstellationen. Graduierte generierten sogar mehr Eigenschaften mit Bezug auf soziale Konstellationen als Psychologiestudierende. Nur in der Gruppe der Graduierten waren sozialen Konstellationseigenschaften mit Aktivierung in sozio-emotionalen Schaltkreisen verbunden. „Akademische Expertise stärkt demnach sogar die Verankerung psychologischer Begriffe in den sozio-emotionalen Schaltkreisen des Gehirns“, so Markus Kiefer. „Unsere Studie bietet somit eine neuartige Sicht auf akademische Expertise und den Erwerb von wissenschaftlichem Wissen.“
Diese Forschung unterstreicht, wie wichtig in der akademischen Bildung auch Lehreinheiten mit sinnlichem Bezug und direkten Erfahrungswerten sind, wie praktische Übungen, Museumsbesuche, Feld-Exkursionen oder Laborexperimente, aber auch Veranschaulichung abstrakter Inhalte in der Lehre. „Wissenschaftliches Wissen ist zwar abstrakt in dem Sinne, dass es sich auf komplexe, oft nicht direkt wahrnehmbare Sachverhalte bezieht. Jedoch gründet es auf einer Reaktivierung von Information in erfahrungsbasierten Schaltkreisen des Gehirns.“ Gefördert wurde das Projekt durch Drittmittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
Weitere Informationen:
Prof. Dr. Markus Kiefer, Leiter der Sektion für kognitive Elektrophysiologie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III am Universitätsklinikum Ulm,
E-Mail: markus.kiefer@uni-ulm.de
Literaturhinweis:
Ulrich, M., Trumpp, N., Harpaintner, M., Berger, A., Kiefer, M. (2022). Academic training increases grounding of scientific concepts in experiential brain systems. Cerebral Cortex.
doi.org/10.1093/cercor/bhac449
Text: Anja Burkel