In Deutschland sind zwischen 200.000 und 1 Mio. Minderjährige von sexueller Gewalt betroffen. Diese hohe Zahl haben Wissenschaftler der Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie im Auftrag des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs in einer Expertise erhoben. Dafür werteten sie am Kompetenzzentrum Kinderschutz in Baden-Württemberg internationale Studien aus. Besonders betroffen sind Mädchen, die meisten Missbrauchsopfer erleben gleichzeitig weitere Formen von Gewalt.
Genaue Zahlen schwer zu erheben
Allein die Spannbreite der Zahlenangaben zu den Betroffenen zeige drei Dinge, so Professor Fegert, Ärztlicher Direktor der Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie: „Erstens: Sexueller Missbrauch hat auch in Deutschland eine enorme Dimension, die so bisher nicht in einer Übersichtsstudie erhoben wurde. Die WHO spricht für die europäische Region von einer Häufigkeit von 9,6 Prozent für sexuellen Missbrauch (Mädchen 13,4 Prozent, Jungen 5,7 Prozent). Zum Vergleich: An der Volkskrankheit Diabetes Typ II leiden in Deutschland ca. 8,3 Prozent der über 20-Jährigen. Zweitens: Sexueller Missbrauch kommt häufig kombiniert mit anderen belastenden Lebensereignissen vor, wie beispielsweise Vernachlässigung und Misshandlung. Drittens: Nicht nur jedes Land, sondern auch unterschiedliche Berufsgruppe definieren sexuellen Missbrauch anders, daher sind genaue Zahlen schwer zu erheben.“
Neue Formen der Gewalt
Daraus ergibt sich für die Ulmer Forschungsgruppe eine klare Forderung: „Wir brauchen dringend einheitliche Definitionen und Standards in Forschung und Praxis. Nur wer Umfang und Verbreitung sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen kennt, kann auch entscheidende Antworten zu ihrer Eindämmung finden“, so Professor Fegert. Neben einheitlichen Definitionen fordern die Wissenschaftler auch aktuellere Daten. „Vieles, was wir über sexuellen Missbrauch wissen, haben ältere Menschen aus ihrer Jugend berichtet. Wir müssen verstärkt die Jugendlichen von heute fragen. Sie erleben beispielsweise unter Gleichaltrigen oder in ihrem von digitaler Technik geprägten Umfeld ganz andere Formen von Gewalt, die auch andere Hilfen verlangen“, erläutert Professor Fegert. Auch die Einbeziehung der Betroffenen in die Forschung ist den Wissenschaftlern ein großes Anliegen.
Mehr Aufarbeitung und mehr Forschung notwendig
Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, der die Studie in Auftrag gegeben hatte, sagte bei der Vorstellung der Ergebnisse der Studie in Berlin in der vergangenen Woche: „Skandale machen die Dimension des Leids von sexuellem Missbrauch immer wieder erkennbar, oft werden daraus aber nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen. Um das Ausmaß und die gesellschaftliche Dimension von sexuellem Missbrauch insgesamt greifbarer zu machen, brauchen wir mehr Aufarbeitung, mehr Forschung und dringend eine verlässlichere Datenlage.“
Ulm wichtiger Forschungsschwerpunkt
Daran arbeitet das Team um Professor Fegert. Es hat bereits umfangreiche Forschungsarbeiten zum Thema sexueller Missbrauch veröffentlicht, erstellt und evaluiert mit Einrichtungen der Jugendhilfe Präventions- und Hilfskonzepte. „In Ulm ist mit dem 2013 gegründeten Kompetenzzentrum Kinderschutz in der Medizin und dem Zentrum für Traumaforschung TFZ ein wichtiger Forschungsschwerpunkt entstanden, der auch weit in die klinische Praxis hineinwirkt. Daran hat das Team um Herrn Professor Fegert einen großen Anteil“, betont der Leitende Ärztliche Direktor des Ulmer Universitätsklinikums, Prof. Dr. Udo X. Kaisers. Gestern informierte sich Ekin Deligöz, Bundestagsabgeordnete der Grünen für Neu-Ulm, bei den Ulmer Wissenschaftlern über die Studie und weitere Ulmer Projekte, beispielsweise die Zukunftsaufgaben des 2013 gegründeten Kompetenzzentrums Kinderschutz in der Medizin. Ekin Deligöz hatte sich am „Runden Tisch“, der im Zuge der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle eingesetzt wurde, stark für bessere Hilfen für Betroffene eingesetzt.
Bessere Verbreitung und Umsetzung von Forschungsergebnissen
Wie solche Forschungsergebnisse in die Praxis implementiert werden können besprach sie gemeinsam mit Professor Fegert und Prof. Dr. Lutz Goldbeck (ebenfalls Universitätsklinik Ulm) und internationalen Wissenschaftlern die zu einer Tagung nach Ulm gekommen sind, unter anderem Denise Pintello vom National Institute of Mental Health (Bethesda/USA), Tine Jensen vom Nationalen und königlichen Traumaforschungszentrum an der Universität Oslo, Shannon Dorsey von der Universität Washington/Seattle und Vertreter von der Veterans Administration und der Uni Stanford. Ziel der Veranstaltung gestern und heute war es, Strategien zur besseren Verbreiterung und praktischen Umsetzung von Forschungsergebnissen zu diskutieren.
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