„Lückekinder“ – eine vergessene Altersgruppe?

Ulmer Forschergruppe untersucht Lebenswelt von 10- bis 14-Jährigen

Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 14 Jahren be­trachten die Schule nicht nur unter Leistungsaspekten, sondern sehen sie als „Freizeitort“, um Freunde zu treffen und Spiel- und Sportstätten zu nutzen. Generell verbringt diese Altersgruppe ihre Freizeit gern „draußen“ an Sport- und Skateplätzen, auf dem Schulhof und geht gern „in die Stadt“. Mädchen und Jungen wünschen sich mehr altersadäquate Freizeitangebote in öffentlichen Räumen, um gemeinsam „abzuhängen“ und zu „chillen“. Diese Aussagen gehen aus einer quali­tativen Pilotstudie zum Thema „Die soziale Welt der Lückekinder – Analyse einer vergessenen Gruppe“ hervor. Mit Förderung der Stiftung Ravensburger Verlag (200.000 Euro) führt eine Ulmer Forscher­gruppe unter Lei­tung von Professor Dr. Jörg M. Fegert und Professorin Dr. Ute Ziegenhain(Universi­täts­klinik für Kinder- und Jugend­psy­chia­t­rie/Psychotherapie in Ulm) eine qualitative Studie zu dieser Alters­gruppe durch, deren erste Ergebnisse heute bei einer Fachtagung in Berlin vorgestellt werden. Das Pro­jekt ist auf zwei Jahre angelegt und endet dieses Jahr. Die Lebensfeldexpertise soll Handlungsfelder für Eltern und Jugend­hilfe aufzeigen.

 

Lost in Transition – zwischen Vorpubertät und früher Jugendphase

Wohin, wenn man zu alt ist für den Kinderspielplatz und zu jung für den Jugendtreff im Wohnviertel und für den Club, in dem 16-Jährige Partys feiern? Wenn man kein Kind mehr, aber noch kein Jugendlicher ist? Die Altersgruppe der 10- bis 14-Jährigen wird in Forschung und Öffentlichkeit als „späte Kindheit“ oder „Vorpubertät“ benannt und wurde wissenschaft­lich bislang kaum systematisch beachtet. „Es gibt fast keine abgesicherten Aussagen zu den ent­wick­lungspsychologischen und soziokulturellen Besonderheiten dieser Altersgruppe“, berich­tet Professor Jörg M. Fegert. „Dabei werden gerade in dieser Phase des Heranwachsens ent­schei­dende Weichen für eine gelingende oder weniger glückende Jugendzeit gestellt.“

 

Kinder als Experten in eigener Sache

Die Rahmenbedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, haben sich verändert, die Kind­heitsforschung spricht von einer „Verfrühung der Jugendphase“. Dies betrifft nicht nur die Nutzung der vernetzten Medienwelt, sondern auch gestiegene Leistungsanforderungen durch die verkürzte Gymnasialzeit und die Ganztagsschule. Die Pilotstudie zeigt modellhaft im Sinne einer „Probebohrung“ Ergebnisse aus ausführlichen, mehrmaligen, intensiven Inte­r­views mit ca. 30 Kindern, auch Eltern sowie kommunalpolitischen Ent­scheidungsträgern. Qualitative Forschung wird immer dann angewendet, wenn kaum Datenmaterial zum For­schungsthema vorliegt. Es bildet die Grundlage für weitere Forschungen mit quantitativen und qualitativen Fragestellungen.

 

Spaziergänge zu Lieblingsplätzen

Zusätz­lich wurden die Kinder von jungen Wissenschaftlerinnen auch auf Spaziergänge zu ihren Lieblingsplätzen begleitet, sogenannte Neighbourhood Walks, eine wissenschaftliche Methode, die besondere Auf­schlüsse für die kommunale Jugendpolitik liefern kann. Die be­fragten Kinder kamen aus städtischen und ländlichen Gebieten Baden-Württembergs, es waren gleich viele Jungen und Mädchen, die Gemeinschaftsschulen der Standorte Stuttgart, Ulm, Reutlingen und Ravensburg besuchen. In dieser Pilotstudie bewusst noch nicht berück­sichtigt wurden Kinder aus psychosozial belasteten Familien und Kinder mit Migrationshin­tergrund, die nicht von Geburt an in Deutschland leben.

 

Erste Ergebnisse des Pilotprojekts

In der Fachtagung „Lückekinder – eine vergessene Gruppe?“, die heute im Berliner Vivantes Klinikum im Friedrichshain mit ca. 80 Verantwortlichen aus der Praxis stattfindet (Kommu­nale Jugend­hilfe, Träger von Jugendeinrichtungen, Therapeut/innen aus Kinder- und Jugend­psychiatrie und –psychotherapie, Vertreter/innen aus der Bildungs-, Sozial- und Jugendpoli­tik), stellt das Ulmer Forschungsteam die bisherigen Ergebnisse des Pilotprojekts vor. Zusam­mengefasst lauten diese:

- Jungen und Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren unterscheiden sich prinzipiell nicht in Bedürfnissen und Verhalten. Sie wünschen sich Freizeitorte und kommunale Ange­bote außerhalb des Elternhauses, zum Beispiel Parkanlagen, Jugendtreffs, Parcours für Sport und HipHop-Tanz. Allerdings wollen sie dort unterschiedlichen Interessen nach­gehen: Mädchen möchten sich am liebsten mit Freundinnen in eine „rosa Hütte“ zurückziehen; manche Mädchen würden auch gern Fußball spielen, aber dies ist nach wie vor eher ein Jungenwunsch; Jungen dieses Alters bevorzugen gemeinsame Aktivi­täten vor allem in Bewegungsspiel und Sport.

- Die Institution Schule wird zunehmend als „Freizeitort“ anerkannt, um Freunde zu treffen und ihre Spiel- und Sportstätten zu nutzen, wobei Zustand und Aufteilung von Gebäuden und Außengelände oft bemängelt werden. Trotz dieser positiven Vermi­schung von Schule und Freizeit erleben besonders Mädchen den Lernbetrieb als sehr fordernd und nannten Probleme im Schulalltag, wobei am häufigsten als unfair empfundenes Lehrerverhalten genannt wird (Strafarbeiten, Nachsitzen, u, ä.).

- Die digitalen Medien nutzen die befragten 10- bis 14-Jährigen noch nicht zur Selbstdar­stellung, sondern für konkrete Zwecke: WhatsApp als Kommunikationsmittel, Computerspiele, Recherchen für Schulaufgaben, youtube-Filme. Sie betrachten die Gefahren der Medienwelt kritisch (Mobbing, „Facebook-Sucht“, Datenmissbrauch) und akzeptieren die Vorgaben ihrer Eltern, die im Übrigen oft gemeinsam ausgehan­delt wurden.

- Von ihren Eltern fühlen sich diese Kinder wertgeschätzt und nutzen sie als Ressource, Ratgeber, Vertrauenspersonen, um sich in der sozialen Lebenswelt zurecht zu finden.

- Obwohl die gleichaltrigen Freunde als sehr wichtige Stütze und Vertrauenspersonen gelten und auch erste Ablösungstendenzen von den Eltern sichtbar werden, die sich zum Beispiel in Tabuthemen äußern, genießt die Familie für diese Altersgruppe einen hohen Stellenwert. Die „Lückekinder“ wünschen sich gemeinsame Familienzeit, Urlaub, Ausflüge und dass die Eltern weniger Zeit für ihren Beruf aufbringen.

In einer ersten Gesamtauswertung kommt das Forschungsteam zum Schluss, dass diese Altersgruppe Freiräume und Experimentierfelder braucht, offene Angebote eher als vorstruk­turierte Möglichkeiten, ihre freie Zeit zu gestalten.

Kommunen sollten Freizeitpädagogik verbessern
Von der Forschungsstudie erwartet die Stiftung Ravensburger Verlag Vor­schläge für eine verbesserte soziale, bildungsbezogene und freizeitpädagogische Förderung von „Lücke­kin­dern“. Dazu sagt Stiftungsvorsitzende Dorothee Hess-Maier: „Gerade die älteren Kinder und frühen Jugendlichen gehören oft zu den stummen Mitbürgern, und Eltern sind oft hilflos ge­gen­­­über ihrer Verschlossenheit. Sie benötigen Angebote, sowohl im öffentlichen als auch im schulischen und familiären Raum sowie verständnisvolle Begleitung. So mancher Kommunal­politiker glaubt, es genüge, das Jugend­schutzgesetz korrekt anzuwenden.“

 

Das Forschungsteam

Bei der Auswertung der Befragungen koope­rieren die Forscher mit der Sigmund-Freud-Universität in Wien. Ein wissenschaftlicher Bei­rat, in dem auch Praktiker beteiligt sind, begleitet die Arbeit (Namen auf Anfrage). Teamleiter Professor Dr. Jörg M. Fegert ist Präsi­dent der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugend­psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie und stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats für Fami­lienfragen im Bundesfamilienministerium. Professorin Dr. Ute Ziegenhain war von 2010 bis 2013 Mitglied im Bundesju­gendkuratorium.

 

Das unten angehängte Foto zeigt Frau Prof. Dr. Ziegenhain und Herrn Prof. Dr. Fegert (Foto: Universitätsklinikum Ulm).

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Prof. Ziegenhain, Prof. Fegert (Foto: Universitätsklinikum Ulm)