Die Evangelische Landeskirche in Württemberg baut ihr mehrstufiges Schutzkonzept gegen sexualisierte Gewalt weiter aus und hat eine Studie beauftragt, die Fälle von Missbrauch in den Evangelischen Seminaren, dem Hymnus-Chor und dem CVJM-Esslingen untersuchen soll - mit dem Ziel, aus strukturellen Fehlern der Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft zu lernen. Die renommierte Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm führt diese auf drei Jahre angelegte Studie durch, die am Mittwoch in Stuttgart vorgestellt wurde.
Unter dem Titel Auf! – Aufarbeitung und Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch in Einrichtungen der Evangelischen Landeskirche in Württemberg sollen einerseits historischer Missbrauchsfälle aus den 1950er und 1960er Jahren aufgearbeitet und eingeordnet werden, andererseits soll das Projekt der Verbesserung von Schutzkonzepten und Prävention dienen, so der Direktor im Evangelischen Oberkirchenrat und juristische Stellvertreter des Landesbischofs, Stefan Werner. „Mit dieser Studie ergänzen wir unsere Aufarbeitungs- Präventions- und Interventionsbemühungen. Wir wollen Sensibilität für Strukturen bekommen, in denen sich ein solches, strategisches Vorgehen besonders gut etablieren lässt. Für uns ist ganz klar: Wir wollen wissen, was geschah. Wir wollen daraus lernen. Und wir wollen das transparent gestalten. Die Ergebnisse dieser Studie werden glasklar veröffentlicht.“
Das Projekt, das die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm unter Leitung von Jun.-Prof. Dr. Miriam Rassenhofer durchführt, gibt zunächst Betroffenen Gelegenheit, ihre Geschichte zu erzählen. Daran schließt sich eine historische Untersuchung der Fälle an - mit Blick besonders auf Machtverhältnisse, Netzwerke, Mentalitäten und Rituale, die Missbrauch begünstigten. Anschließend werden die heutigen Schutzkonzepte der betroffenen Einrichtungen aus Sicht der betreuten Kinder und Jugendlichen sowie der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen untersucht. Im Vergleich zwischen der historischen und heutigen Situation für Kinder und Jugendliche in den Institutionen arbeitet das Universitätsklinikum anschließend institutionelle Parallelen und Unterschiede heraus. „Durch das Zusammenführen der Erkenntnisse der Aufarbeitung der historischen Fälle sowie der Ergebnisse der Befragung zur heutigen Situation wollen wir Ansatzpunkte identifizieren und Empfehlungen formulieren, wie Schutzkonzepte in den Einrichtungen weiterentwickelt werden können.“ Rassenhofer rief dazu auf, „dass sich Betroffene und Zeitzeugen, die zum Projekt beitragen wollen, melden.“ Zusätzlich zu den Gesprächen werden die Forscher in Quellen und Archiven recherchieren, um Zusammenhänge und Abläufe zu rekonstruieren und das Geschehene in den historischen Kontext einzuordnen.
Die Studie ist auf insgesamt drei Jahre angelegt. „Die Studie des Ulmer Uniklinikums geht als institutionelle Untersuchung über viele Aufarbeitungsprojekte anderer Landeskirchen hinaus. In den hier untersuchten Fällen war die Täterstrategie besonders perfide, mit einer Vernetzung in mehrere Einrichtungen. Umso wichtiger ist es, hieraus Lehren zu ziehen, um Kinder und Jugendliche heute und in Zukunft bestmöglich zu schützen“, macht Ursula Kress von der landeskirchlichen Ansprechstelle für sexualisierte Gewalt deutlich. Die Kosten für die Studie liegen bei rund 300.000 Euro.
Kress wies darauf hin, dass es bereits seit 2015 eine „Unabhängige Kommission“ unter Vorsitz des Stuttgarter Richters a. D. Wolfgang Vögele gibt, bei der sich mittlerweile rund 150 Betroffene sexualisierter Gewalt gemeldet haben. Ein Großteil dieser Betroffenen erlitt nach derzeitigem Kenntnisstand sexualisierte Gewalt nicht in der verfassten Kirche (15 Fälle), also etwa durch Pfarrpersonen, sondern in Heimen der Diakonie (135). Die Betroffenen haben eine sogenannte Anerkennungsleistung von 5.000 Euro bekommen. Insgesamt hat die Landeskirche gut 900.000 Euro für die direkte Unterstützung Betroffener ausgegeben.
Die EKD arbeitet derzeit an einem gemeinsamen Konzept für individuelle Anerkennungsleistungen für erlittenes Leid durch sexuelle Übergriffe in den evangelischen Landeskirchen. Um die Wartezeit zu überbrücken, die hier aufgrund des Abstimmungsbedarfs entsteht, hat die württembergische Landeskirche den in ihrem Bereich Betroffenen die Möglichkeit weiterer, nun individueller Hilfen und Unterstützung angeboten.
„Zusammen mit Monika Memmel von der Ansprechstelle des Diakonischen Werks Württemberg bin ich seit November 2020 in Kontakt mit den Betroffenen getreten, die infolge sexueller Übergriffe und Gewalthandlungen die pauschale Anerkennungsleistung erhalten hatten“, so Kress. „Daraufhin haben uns rund 90 Reaktionen in Form von Telefonaten, Mails und Briefen erreicht.“ Knapp 60 Befragte haben eine individuelle Neubewertung ihrer Anerkennungsleistung beantragt. „Es hat mich erschüttert, wie groß der Hilfsbedarf teilweise war. Vor allem die Folgen der Corona-Pandemie haben vielen der Angeschriebenen sehr zugesetzt.“ In solchen akuten persönlichen Notlagen helfen die Unabhängige Kommission und die Ansprechstellen schnell und unbürokratisch, etwa mit Unterstützungsleistungen wie Vermittlung zu Therapien, Sucht- und Schuldnerberatung sowie Hilfen zur Alltagsbewältigung, und Finanzmitteln – zum Beispiel für Prozesskosten, einen Kühlschrank, Zahnbehandlungen.
Der württembergischen Landesbischof Dr. h. c. Frank Otfried July setzt auf weiterhin entschiedenes Vorgehen: „Das Thema Missbrauch geht uns ans Herz. Wir bedauern es zutiefst, dass Kinder und Jugendliche durch Mitarbeitende oder durch das institutionelle Versagen einer Einrichtung in der Evangelischen Landeskirche oder ihrer Diakonie Opfer von Missbrauch oder sexualisierter Gewalt geworden sind. Wir wollen alles in unserer Kraft Stehende tun, um die Aufklärung voranzubringen, zu einem Ausgleich für Betroffene beizutragen – und solche Taten künftig zu verhindern.“