Diabetes-​Schalter in der DNA

Nicht-​kodierender Bereich im Erb­gut beein­flusst ONE­CUT1-Gen

Es sind unter­schätzte gene­ti­sche Steu­er­ele­mente: Dass Ver­än­de­run­gen im Erb­gut Dia­be­tes aus­lö­sen kön­nen, ist bekannt. Doch nun haben For­schende des Uni­ver­si­täts­kli­ni­kums Ulm und des INSERM Cochin Insti­tuts in Paris gezeigt, dass auch eine bis­her wenig erforschte Region des Erb­guts eine ent­schei­dende Rolle bei der Ent­ste­hung die­ser Erkran­kung spielt. Die deutsch-​französische Koope­ra­tion hat auf­ge­deckt, dass eine Region der „nicht-​kodierenden DNA“ die Akti­vi­tät des Diabetes-​Gens ONE­CUT1 maß­geb­lich beein­flusst. Die Ergeb­nisse des Pro­jekts wur­den in der renom­mier­ten Fach­zeit­schrift Cell Reports ver­öf­fent­licht – und eröff­nen neue Wege für per­so­na­li­sierte The­ra­pien.

„Im Fokus unse­rer For­schung stand ein jun­ger Pati­ent unse­rer fran­zö­si­schen Part­ner, bei dem bereits im Säug­lings­al­ter eine sel­tene Form von Dia­be­tes auf­grund einer Muta­tion im ONE­CUT1-Gen dia­gnos­ti­ziert wor­den war“, erklärt Pro­fes­sor Alex­an­der Kle­ger, Direk­tor des Insti­tuts für Mole­ku­lare Onko­lo­gie und Stamm­zell­bio­lo­gie (IMOS) der Uni­ver­si­tät Ulm und Lei­ter der Sek­tion Inter­dis­zi­pli­näre Pan­krea­to­lo­gie der Kli­nik für Innere Medi­zin I. „Er war bei der Geburt deut­lich klei­ner und leich­ter als andere Neu­ge­bo­rene, wies Fehl­bil­dun­gen an den Fuß­ze­hen auf, hatte eine stark ver­klei­nerte Bauch­spei­chel­drüse und keine Gal­len­blase.“ Im Teen­ager­al­ter ver­schlech­terte sich sein Zustand dra­ma­tisch, mit schwe­ren Magen-​Darm-Blutungen und fort­schrei­ten­der Leber­zir­rhose. Als jun­ger Erwach­se­ner ver­starb er schließ­lich an einer Kom­pli­ka­tion der Krank­heit. „Zwar war bekannt, dass ONE­CUT1 eine wich­tige Rolle bei der Ent­wick­lung der Bauch­spei­chel­drüse und der Leber sowie bei der Ent­ste­hung die­ser sel­te­nen Form von Dia­be­tes spielt“, so Kle­ger, „aller­dings konnte dies nicht die außer­ge­wöhn­li­che Schwere der Erkran­kung erklä­ren.“

Das For­schungs­team am IMOS hat humane Stamm­zel­len gene­tisch so ver­än­dert, dass sie die spe­zi­fi­schen Muta­tio­nen die­ses Pati­en­ten wider­spie­geln. Dar­aus erzeugte es Vor­läu­fer­zel­len der Bauch­spei­chel­drüse und unter­suchte diese mit­hilfe moder­ner mole­ku­lar­bio­lo­gi­scher Metho­den. In Zusam­men­ar­beit mit wei­te­ren Ulmer For­schungs­in­sti­tu­ten (Human­ge­ne­tik, Trans­fu­si­ons­me­di­zin) kam unter ande­rem eine beson­dere Form zur Ana­lyse des mensch­li­chen Erb­guts zum Ein­satz, die soge­nannte Nanopore-​Sequenzierung. Außer­dem wurde die räum­li­che Struk­tur des Chro­ma­tins unter­sucht, um zu ver­ste­hen, wie unter­schied­li­che Teile der DNA im Zell­kern zusam­men­wir­ken. Abschlie­ßend setz­ten die For­schen­den die CRISPR-​Cas9-​Technologie ein, die auch als Gen­schere bekannt ist, um gezielt eine nicht-​kodierende Region des Genoms zu ent­fer­nen und deren Ein­fluss auf die Ent­wick­lung der Bauch­spei­chel­drüse zu unter­su­chen.
Die­ser nicht-​kodierende Teil ent­hält Ele­mente, die die Gen­ak­ti­vi­tät steu­ern kön­nen – wäh­rend der kodie­rende Bereich die Bau­an­lei­tung für die Pro­te­ine vor­gibt. Lange Zeit galt der nicht-​kodierende Bereich als funk­ti­ons­lose „Junk-​DNA“, doch die For­schen­den in Ulm mach­ten genau dort eine wich­tige Ent­de­ckung. „Wir fan­den her­aus, dass dem Pati­en­ten an die­ser Stelle ein Stück des Erb­gut­strangs fehlte. Dabei han­delte es sich um einen ‚Enhan­cer‘ – ein Ele­ment, das die Tran­skrip­tion der DNA in RNA för­dert und somit die Gen­ak­ti­vi­tät ver­stärkt“, erklärt die Ulmer Bio­lo­gin Dr. San­dra Hel­ler. Obwohl die­ses Ele­ment räum­lich wei­ter vom ONE­CUT1-Gen ent­fernt liegt, beein­flusst es den­noch des­sen Akti­vi­tät. ONE­CUT1 ist maß­geb­lich für die Ent­wick­lung der Beta-​Zellen und damit für die Insu­lin­pro­duk­tion in der Bauch­spei­chel­drüse.

Wäh­rend die For­schen­den aus Ulm und Paris die­ses Enhancer-​Element durch gene­ti­sche Ana­ly­sen in der DNA des Dia­be­tes­pa­ti­en­ten iden­ti­fi­zier­ten, wurde es in den USA von einer For­scher­gruppe durch ein CRISPR-​Screening ent­deckt. „Bei anschlie­ßen­den Unter­su­chun­gen in huma­nen plu­ri­po­ten­ten Stamm­zel­len“, erklärt IMOS-​Doktorandin Sarah Merz, „erziel­ten beide Teams über­ein­stim­mende und sich ergän­zende Ergeb­nisse.“ Auch die US-​amerikanische Stu­die wurde kürz­lich in Cell Reports ver­öf­fent­licht.

Viel­ver­spre­chen­der Ansatz für eine per­so­na­li­sierte Diabetes-​Therapie

Die Ent­de­ckung der For­schen­den eröff­net neue Mög­lich­kei­ten für eine gezielte Dia­be­tes­be­hand­lung. So tes­te­ten sie ver­schie­dene, bereits bei Typ-2-​Diabetes ein­ge­setzte Medi­ka­mente an Zel­len, die die gene­ti­schen Ver­än­de­run­gen des Pati­en­ten nach­bil­de­ten. Einige die­ser Medi­ka­mente ver­bes­ser­ten die gestörte Insu­lin­se­kre­tion – ein viel­ver­spre­chen­der Ansatz für per­so­na­li­sierte The­ra­pien. „Unser Ziel ist es, die The­ra­pie indi­vi­du­ell an die gene­ti­schen Beson­der­hei­ten der Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten anzu­pas­sen, um bes­sere Behand­lungs­er­geb­nisse zu erzie­len. Um ein sol­ches Pro­jekt umset­zen zu kön­nen, braucht es ein­zig­ar­tige Part­ner­schaf­ten auf Augen­höhe, wes­we­gen ich mei­ner Kol­le­gin Cécile Julier vom INSERM Cochin Insti­tut in Paris beson­ders dank­bar bin“, erklärt Pro­fes­sor Alex­an­der Kle­ger.

Die Erkennt­nisse des deutsch-​französischen Teams sind nicht nur für die Behand­lung von Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten mit sel­te­nen gene­ti­schen Muta­tio­nen von Bedeu­tung, son­dern auch für jene mit dem weit ver­brei­te­ten Typ-2-​Diabetes. Denn in der neu iden­ti­fi­zier­ten Region fan­den die For­schen­den auch eine gene­ti­sche Varia­tion, die mit einem höhe­ren Risiko für häu­fige For­men von Dia­be­tes ein­her­geht. Durch die gezielte Ana­lyse die­ser Berei­che könn­ten künf­tig auch gene­tisch maß­ge­schnei­derte Behand­lungs­mög­lich­kei­ten für diese Betrof­fe­nen ent­wi­ckelt wer­den. „Unsere Arbeit zeigt, dass das nicht-​kodierende Genom eine weit­aus grö­ßere Rolle bei der Krank­heits­ent­ste­hung spie­len kann als bis­her ange­nom­men“, betont Alex­an­der Kle­ger. Nun sei es wich­tig, in der gene­ti­schen Dia­gnos­tik umzu­den­ken und sol­che regu­la­to­ri­schen Ele­mente ver­stärkt zu unter­su­chen – um den Mecha­nis­men kom­ple­xer Erkran­kun­gen wie Dia­be­tes auf die Spur zu kom­men.

Das Pro­jekt wurde durch die Deut­sche For­schungs­ge­mein­schaft (DFG) und das Medi­cal Sci­en­tist Pro­gramm der Uni­ver­si­tät Ulm geför­dert und in Koope­ra­tion mit Part­nern wie dem Insti­tut für Human­ge­ne­tik der Uni­ver­si­tät Ulm, der Kli­nik für Innere Medi­zin I, dem Insti­tute for Com­pu­ta­tio­nal Geno­mics der RWTH Aachen sowie dem Insti­tut für Kli­ni­sche Trans­fu­si­ons­me­di­zin und Immun­ge­ne­tik Ulm durch­ge­führt.

 

Hin­ter­grund: Das ONE­CUT1-Gen befin­det sich auf Chro­mo­som 15 beim Men­schen und spielt eine zen­trale Rolle bei der Ent­wick­lung von Leber und Bauch­spei­chel­drüse sowie bei Stoff­wech­sel­pro­zes­sen. Bereits 2021 konn­ten die Ulmer For­schen­den zei­gen, dass Muta­tio­nen in ONE­CUT1 die Ent­ste­hung bestimm­ter Diabetes-​Formen stark beein­flus­sen. Diese Erkennt­nisse sind wich­tig für die per­so­na­li­sierte Medi­zin, da man­che Fälle von ver­meint­li­chem Typ-2-​Diabetes mög­li­cher­weise auf eine Ver­än­de­rung in nur einem Gen zurück­zu­füh­ren sind und gezielt behan­delt wer­den könn­ten.


Publi­ka­ti­ons­hin­weis:
Merz, S., Hel­ler, S., Kle­ger, A., Julier, C. et al. (2024). A ONE­CUT1 regu­la­tory, non-​coding region in pan­crea­tic deve­lo­p­ment and dia­be­tes. Cell Reports, Volume 43, Issue 11, 2024 https://doi.org/10.1016/j.cel­rep.2024.114853

 

Text: Anja Bur­kel | Medi­en­kon­takt: Daniela Stang

v.l. Prof. Alexander Kleger (Foto: Elvira Eberhardt / Uni Ulm), Dr. Sandra Heller (Foto: Elvira Eberhardt / Uni Ulm) und Sarah Merz

v.l. Prof. Alex­an­der Kle­ger (Foto: Elvira Eber­hardt / Uni Ulm), Dr. San­dra Hel­ler (Foto: Elvira Eber­hardt / Uni Ulm) und Sarah Merz (Foto: Prof. Mar­tin Mül­ler)

Pankreasinseln wurden im Labor aus Stammzellen generiert, die die Mutationen des Patienten tragen. Dabei wird deutlich, dass Insulin-produzierende Beta-Zellen (in grün) in den veränderten Inseln seltener vorkommen. Andere Zelltypen wie Glukagon-produzierende Alpha-Zellen (in rot) zeigen keine sichtbaren Veränderungen. Die Abbildung zeigt eine unveränderte Insel (links; WT) im Vergleich zu drei Inseln mit Mutationen (rechts)

Pan­kre­as­inseln wur­den im Labor aus Stamm­zel­len gene­riert, die die Muta­tio­nen des Pati­en­ten tra­gen. Dabei wird deut­lich, dass Insulin-​produzierende Beta-​Zellen (in grün) in den ver­än­der­ten Inseln sel­te­ner vor­kom­men. Andere Zell­ty­pen wie Glukagon-​produzierende Alpha-​Zellen (in rot) zei­gen keine sicht­ba­ren Ver­än­de­run­gen. Die Abbil­dung zeigt eine unver­än­derte Insel (links; WT) im Ver­gleich zu drei Inseln mit Muta­tio­nen (rechts) (Abb.: doi.org/10.1016/j.cel­rep.2024.114853 / (CC BY 4.0))

Dr. Sandra Heller bei einem Experiment im Labor

Dr. San­dra Hel­ler bei einem Expe­ri­ment im Labor (Foto: Elvira Eber­hardt / Uni Ulm)