Sexueller Kindesmissbrauch und Grenzverletzungen im Internet

Studienergebnisse der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm im international angesehensten Fachjournal zum Kinderschutz „Child Abuse & Neglect“ veröffentlicht

In den vergangenen Jahren sind der onlinebasierte sexuelle Kindesmissbrauch und die Grenzverletzungen zunehmend in den Fokus gerückt. Eine Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm (UKU), hat erstmals in Deutschland eine repräsentative Untersuchung zu sexuellen Grenzüberschreitungen und sexualisierter Gewalt, die online im Kindes- und Jugendalter stattfand, durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass etwa ein Drittel der jungen Erwachsenen (18 bis 29 Jahre) in ihrer Kindheit davon betroffen waren – und damit mehr als dreimal so viele wie im Bevölkerungsdurchschnitt.

Mit der zunehmenden Mediennutzung im digitalen Raum und der Flut an kaum zu kontrollierenden Inhalten und Angeboten, steigen auch die digitalen Bedrohungen bis hin zu sexuellen Grenzüberschreitungen, mit denen vor allem auch Kinder und Jugendliche im Internet konfrontiert werden. Dabei kommen digitale Technologien zum Einsatz, um sexuelle Übergriffe zu initiieren, zu eskalieren oder aufrechtzuerhalten – die Interaktion findet ausschließlich online statt. Das Spektrum an Verhaltensweisen und strafbaren Handlungen ist dabei sehr breit: Von erzwungenem sexualisiertem Material, ungewollter Konfrontation mit pornografischem Material über sexualisierte Kontaktaufnahme über das Internet bis hin zur (ungewollten) Erstellung und Weiterleitung sexualisierten Materials durch Kinder und Jugendliche selbst. Sexualisierte Grenzverletzungen stellen somit eine Form der sexuellen Annäherung dar, die von unangemessenen Versuchen emotionaler oder körperlicher Nähe bis hin zu explizitem sexuellem Kindesmissbrauch führen können.

Seit dem sogenannten Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche 2010 ist die öffentliche Debatte zum Kinderschutz in Deutschland maßgeblich durch verschiedene Untersuchungen und Befragungen der Arbeitsgruppe an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am UKU geprägt worden. „Die besondere Herausforderung stellen hier vor allem die jüngeren Altersgruppen dar“, verdeutlicht Prof. Fegert. „Sie sind aufgrund der Dynamik der technischen Entwicklung im Internet sehr viel stärker den Gefährdungen im Netz ausgesetzt“.

Das Kompetenzzentrum Kinderschutz in der Medizin in Baden-Württemberg der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm hat in Kooperation mit dem Markt- und Sozialforschungsinstitut „USUMA“ erstmals in Deutschland eine repräsentative Befragung zu onlinebasiertem sexuellem Kindesmissbrauch und Grenzverletzungen durchgeführt. Von Oktober 2023 bis April 2024 wurden insgesamt 3.098 Personen befragt. 10,3 % der deutschen Bevölkerung berichten von mindestens einem Erlebnis sexualisierten Kindesmissbrauchs oder grenzverletzenden Verhaltens während ihrer Kindheit oder Jugend. Besonders deutlich zeigt sich die Betroffenheit in der Altersgruppe der jungen Erwachsenen von 18 bis 29 Jahren: Hier liegt die Häufigkeit bei 31,6 % – und damit mehr als dreimal so hoch wie im Bevölkerungsdurchschnitt. Darüber hinaus zeigen sich in der digitalen Welt zwischen männlichen (29 %) und weiblichen Betroffenen (34 %) deutlich geringere Unterschiede als bei sexuellem Kindesmissbrauch im Offline-Kontext. Zu den am häufigsten geschilderten Formen unter jungen Erwachsenen gehören die ungewollte Konfrontation mit pornographischem oder sexualisiertem Material – sog. „Dickpics“ etc. (21,1 %), gefolgt von ungewollten sexualisierten Gesprächen (15 %) sowie ungewollten sexualisierten Fragen (12,1 %). Hinsichtlich des Alters zeichnete sich ein deutlicher Aufwärtstrend ab:  Je jüngerdie Befragten waren, desto häufiger berichteten sie von Erfahrungen mit onlinebasiertem sexuellem Kindesmissbrauch und Grenzverletzungen.

Die Studie liefert erstmals fundierte, differenzierte Daten für Deutschland, beleuchtet insbesondere die Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen und zeigt, dass onlinebasierter sexueller Kindesmissbrauch und Grenzverletzungen ein rasch wachsendes Problem darstellen. Katrin Chauviré-Geib, Erstautorin und Kriminologin der Ulmer Arbeitsgruppe, ist selbst von den Ergebnissen überrascht: „Ich bin mit digitalen Medien aufgewachsen und mir war bewusst, dass gerade bei jüngeren Menschen eine gewisse Betroffenheit vorhanden sein wird. Aber dass etwa jede dritte Person junger Erwachsener mindestens eine Form von onlinebasiertem sexuellem Kindesmissbrauch oder Grenzverletzungen im Vergleich zu jeder zehnten Person im gesamtdeutschen Durchschnitt erlebt hat – das hat mich wirklich erstaunt und mir gleichzeitig erneut verdeutlicht, wie wichtig gezielte Untersuchungen mit spezifischen Stichproben sind“. Der Studienleiter und Präsident der Europäischen Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Prof. Fegert, betont ein wahrnehmbares, verändertes Risikoprofil. „Beeindruckt hat mich die Anzahl männlicher Betroffener unter den jungen Erwachsenen. Bei sexuellem Kindesmissbrauch im Offline-Kontext liegt die Anzahl der weiblichen Betroffenen teilweise fast doppelt so hoch wie bei männlichen Betroffenen. Das hat sich im digitalen Raum nicht bestätigt – ganz im Gegenteil. Diese Beobachtungen werfen Fragen auf: Warum verschieben sich geschlechtsspezifische Betroffenheitsmuster im digitalen Raum? Welche Rolle spielen Anonymität, Kommunikationsformen oder soziale Normen dabei?“, schlussfolgert Prof. Fegert.

Die Ergebnisse unterstreichen die dringende Notwendigkeit, gezielte Präventionsmaßnahmen zur Bewältigung von Online-Risiken gerade bei Kindern und Jugendlichen zu erarbeiten. Die Vereinten Nationen haben inzwischen die Beendigung von Gewalt gegen Kinder zu einem zentralen Ziel ihrer Agenda 2030 erklärt und in die Nachhaltigkeitsziele aufgenommen. Prof. Fegert begrüßt darüber hinaus, dass im Koalitionsvertrag eine Expertenkommission zum Thema Kinder- und Jugendschutz in einer digitalen Welt eingesetzt werden soll. Die vorliegende Studie unterstreicht die Notwendigkeit eines zeitgemäßen Kinderschutzes sowohl in analogen als auch in digitalen Räumen und zeigt, dass dieses Thema auch ressortübergreifend behandelt werden muss.

Publikationshinweis:
Chauviré-Geib, K., Gerke, J., Haag, A.-C., Sachser, C., Rassenhofer, M. & Fegert, J.M. (2025). The increase in online child sexual solicitation and abuse: Indicator 16.2.3 of the UN Sustainable Development Goals (SDG) documents a hidden and growing pandemic. Population-based surveys fail to capture the full picture. Child Abuse & Neglect. https://doi.org/10.1016/j.chiabu.2025.107452

Eine Arbeitsgruppe der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm führte erstmals in Deutschland eine repräsentative Befragung zu onlinebasiertem sexuellem Kindesmissbrauch und Grenzverletzungen durch.