Ner­ven­krank­heit ALS:

Risi­ko­fak­tor schwere kör­per­li­che Arbeit Akti­vi­täts­ni­veau als Ein­fluss­größe und Früh­sym­ptom iden­ti­fi­ziert

Wer im Beruf kör­per­lich schwere Arbeit ver­rich­tet, erkrankt offen­bar häu­fi­ger an Amyo­tro­pher Late­ral­skle­rose (ALS) als zum Bei­spiel Büro­an­ge­stellte. Zu die­sem Ergeb­nis kom­men Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­ler der Ulmer Uni­ver­si­täts­me­di­zin. Ins­ge­samt scheint das Akti­vi­täts­ni­veau Ein­fluss auf Krank­heits­ent­ste­hung und -​verlauf zu haben: Die For­schen­den aus Neu­ro­lo­gie und Epi­de­mio­lo­gie haben einen plötz­li­chen Abfall der kör­per­li­chen Betä­ti­gung erst­mals als ALS-​Frühsymptom iden­ti­fi­ziert und gezeigt, dass mode­rate Bewe­gung nach Krank­heits­be­ginn die durch­schnitt­li­che Über­le­bens­dauer erhöht. Nun ist die Stu­die, die auf dem umfang­rei­chen ALS-​Register Schwa­ben basiert, online in „Neu­ro­logy“ erschie­nen.

Haben kör­per­lich schwer arbei­tende Stein­metze, Holz­fäl­ler oder Spit­zen­sport­ler ein erhöh­tes Risiko, an Amyo­tro­pher Late­ral­skle­rose zu erkran­ken? Und kann phy­si­sche Akti­vi­tät den Krank­heits­ver­lauf beein­flus­sen? Diese For­schungs­fra­gen waren Aus­gangs­punkt einer umfang­rei­chen Stu­die der Ulmer Uni­ver­si­täts­me­di­zin, in der die gesamte Lebens­spanne der Teil­neh­men­den betrach­tet wird. „Bereits seit den 1960-er Jah­ren wird schwere kör­per­li­che Arbeit als ALS-​Risikofaktor dis­ku­tiert. Aus­lö­ser waren die Erkran­kun­gen des pro­mi­nen­ten US-​Baseballspielers Lou Geh­rig und eini­ger ita­lie­ni­scher Fuß­ball­spie­ler an Amyo­tro­pher Late­ral­skle­rose“, erklärt Pro­fes­sor Albert Ludolph, Ärzt­li­cher Direk­tor der Ulmer Uni­ver­si­täts­kli­nik für Neu­ro­lo­gie (RKU).
Bei der ALS (2-3 Fälle pro 100 000 Per­so­nen/Jahr) gehen die so genann­ten Moto­neu­rone zugrunde. Sym­ptome rei­chen von Läh­mungs­er­schei­nun­gen über den Ver­lust der Spra­che bis zum Gefühl, im eige­nen Kör­per gefan­gen zu sein. Trotz neuer the­ra­peu­ti­scher Ansätze ist die rela­tiv sel­tene Erkran­kung wei­ter­hin unheil­bar und führt etwa zwei bis fünf Jahre nach der Dia­gnose zum Tod. Die Stu­di­en­lage, ob kör­per­lich schwere Arbeit Krank­heits­ent­ste­hung und -​verlauf beein­flusst, ist bis­her unein­deu­tig.

Daher haben Ulmer For­schende aus Neu­ro­lo­gie und Epi­de­mio­lo­gie die­sen Zusam­men­hang sowie den Ein­fluss der kör­per­li­chen Gesamt­ak­ti­vi­tät in einer groß ange­leg­ten Stu­die zu über­prüft. Die Basis bil­det das ALS-​Register Schwa­ben, in dem seit 2010 alle neu dia­gnos­ti­zier­ten Fälle der Region erfasst sind. Für die aktu­elle Stu­die haben 393 ALS-​Erkrankten sowie 791 gesunde Kon­troll­per­so­nen in stan­dar­di­sier­ten Inter­views Aus­kunft über Dauer und Art ihrer Akti­vi­tä­ten in ver­schie­de­nen Lebens­pha­sen gege­ben (mit 20, 30, 40, 50 und 60 Jah­ren). Dabei wur­den sie gebe­ten, phy­si­sche Belas­tun­gen bei der Arbeit und in der Frei­zeit ein­zu­tei­len: Zum einen in „schweiß­trei­bende Akti­vi­tä­ten“ wie inten­si­ven Sport oder die Arbeit eines Land­wirts, Bau­ar­bei­ters oder Stein­metz. Und zum ande­ren in leichte Anstren­gun­gen wie Büro­tä­tig­kei­ten oder Rad­fah­ren. Aus die­sen Anga­ben berech­ne­ten die For­schen­den den „MET-​Wert“, also die Energie-​Aufwendung bezo­gen auf Stun­den pro Woche (1 MET= Sauer­stoff­ver­brauch von 3,5 ml/kg/min). „Mit die­sen umfang­rei­chen Daten von Betrof­fe­nen und aus der gesun­den Kon­troll­gruppe erhof­fen wir uns Auf­schluss über schwere kör­per­li­che Arbeit als mög­li­chen ALS-​Risikofaktor. Außer­dem unter­su­chen wir den Ein­fluss der phy­si­schen Akti­vi­tät auf den Krank­heits­ver­lauf“, resü­miert Erst­au­torin PD Dr. Angela Rosen­bohm, Ober­ärz­tin und Wis­sen­schaft­le­rin an der Ulmer Uni­ver­si­täts­kli­nik für Neu­ro­lo­gie.

Die Ergeb­nisse der sta­tis­ti­schen Aus­wer­tung haben unmit­tel­bare kli­ni­sche Rele­vanz:

Offen­bar hängt die kör­per­li­che Gesamt­ak­ti­vi­tät der Stu­di­en­teil­neh­men­den nicht mit einem erhöh­ten ALS-​Risiko zusam­men. Erkrankte und Kon­troll­gruppe gaben auf die Lebens­spanne bezo­gen ein ver­gleich­ba­res Belas­tungs­ni­veau an. Bei den ALS-​Patientinnen und -​Patienten zeigte sich aller­dings rund 5 Jahre vor der Dia­gnose ein signi­fi­kan­ter Aktivitäts-​Abfall. Die For­schen­den ver­mu­ten, dass bereits vor Sym­ptom­be­ginn sub­kli­ni­sche Ver­schlech­te­run­gen oder krank­heits­be­zo­gene Ver­än­de­run­gen des Stoff­wech­sels sowie des Lebens­stils ein­tre­ten. Ins­ge­samt zeigt der Ver­gleich mit der gesun­den Kon­troll­gruppe, dass schwere kör­per­li­che Arbeit mit einem fast dop­pelt so hohen ALS-​Risiko asso­zi­iert ist. Bewe­gung in der Frei­zeit hat offen­bar keine ver­gleich­bar nega­ti­ven Aus­wir­kun­gen. „Aller­dings könn­ten auch andere noch unbe­kannte Belas­tun­gen am Arbeits­platz das Erkran­kungs­ri­siko beein­flus­sen“, erläu­tert Pro­fes­so­rin Gabriele Nagel vom Insti­tut für Epi­de­mio­lo­gie und Medi­zi­ni­sche Bio­me­trie der Uni­ver­si­tät Ulm.
Wei­ter­hin hängt die mitt­lere Über­le­bens­dauer nach der Dia­gnose offen­bar mit dem Akti­vi­täts­ni­veau zusam­men: Die kür­zeste Über­le­bens­spanne mit 15,4 Mona­ten hat­ten inak­tive ALS-​Erkrankte. Aber auch die kör­per­lich agilste Gruppe ver­starb bereits nach durch­schnitt­lich 19,3 Mona­ten. Bei einem mode­ra­ten Betä­ti­gungs­le­vel von 10,5 MET/h pro Woche – das ent­spricht etwa zwei Stun­den Fahr­rad fah­ren in die­sem Zeit­raum – war die mitt­lere Über­le­bens­dauer mit 29,8 Mona­ten am höchs­ten.

 „Mit dem Aktivitäts-​Abfall etwa 5 Jahre vor der Dia­gnose haben wir vor allem erst­mals ein stoff­wech­sel­as­so­zi­ier­tes Früh­sym­ptom der ALS ent­deckt. Außer­dem konn­ten wir zei­gen, dass kör­per­li­che Akti­vi­tät auch nach Sym­ptom­be­ginn die Über­le­bens­dauer beein­flusst “, betont Dr. Angela Rosen­bohm. Die mög­li­chen Aus­wir­kun­gen krank­heits­be­ding­ter Ver­än­de­run­gen des Stoff­wech­sels oder des Lebens­stils auf das Akti­vi­täts­ni­veau müs­sen in künf­ti­gen For­schungs­vor­ha­ben genauer unter­sucht wer­den. Aber schon jetzt zeigt die Stu­die ALS-​Patientinnen und -​patienten Chan­cen auf, wie sie den Krank­heits­ver­lauf ohne Medi­ka­mente selbst beein­flus­sen kön­nen: „Auch nach Sym­ptom­be­ginn wür­den wir zu mode­ra­ter Bewe­gung raten“, bekräf­tigt Seni­or­au­tor Pro­fes­sor Ludolph.


Die aktu­elle Stu­die hat meh­rere Vor­teile: Zum einen bie­tet das umfang­rei­che ALS-​Register Schwa­ben eine ein­ma­lige Daten­grund­lage – und zum ande­ren sorgt die Umrech­nung der kör­per­li­chen Gesamt­ak­ti­vi­tä­ten in METs für eine grö­ßere

Ver­gleich­bar­keit. Die Erin­ne­rung der Stu­di­en­teil­neh­mer an teil­weise weit zurück­lie­gende Akti­vi­tä­ten, könnte hin­ge­gen eine Ein­schrän­kung sein.

Zum ALS-​Register Schwa­ben

Die nun ver­öf­fent­lichte Stu­die beruht auf dem ALS-​Register Schwa­ben. Darin sind alle neu dia­gnos­ti­zier­ten Fälle in der Region erfasst. Ziel des Regis­ters, das ein Gebiet mit 8,4 Mil­lio­nen Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­nern abdeckt, ist die Bestim­mung der ALS-​Inzidenz sowie mög­li­cher Risi­ko­fak­to­ren. Hier­für umfasst das Regis­ter eine Kon­troll­gruppe, die den ALS-​Patientinnen und -​Patienten in Alter und Geschlecht ent­spricht. So sol­len Ver­hal­tens­wei­sen iden­ti­fi­ziert wer­den, die Krank­heits­ent­ste­hung und -​verlauf beein­flus­sen kön­nen. Daher wer­den Infor­ma­tio­nen zu chro­ni­schen Erkran­kun­gen, zur Ein­nahme von Medi­ka­men­ten sowie zu Lebens­stil­fak­to­ren wie Bewe­gung oder Rau­chen erho­ben.

Das ALS-​Register Schwa­ben und die nun ver­öf­fent­lichte Stu­die wer­den von der Deut­schen For­schungs­ge­mein­schaft (DFG) unter­stützt.
www.uni-​ulm.de/med/epidemiologie-​biometrie/for­schung/regis­ter/als-​register/

Life Course of Phy­si­cal Acti­vity and Risk and Pro­gno­sis of Amyo­tro­phic Late­ral Scle­ro­sis in a Ger­man ALS Regis­try. Angela Rosen­bohm, Raphael Peter, Johan­nes Dorst, Jan Kas­subek, Diet­rich Rothen­ba­cher, Gabriele Nagel, Albert C Ludolph, The ALS Regis­try Swa­bia Study Group. Neu­ro­logy Oct 2021, 10.1212/WNL.0000000000012829; DOI: 10.1212/WNL.0000000000012829

 

Die Erst­au­torin der Stu­die, PD Dr. Angela Rosen­bohm, ist Ärz­tin und Wis­sen­schaft­le­rin an der Ulmer Uni­ver­si­täts­kli­nik für Neu­ro­lo­gie (Foto: RKU)

Prof. Albert Ludolph, Ärzt­li­cher Direk­tor der Kli­nik für Neu­ro­lo­gie am Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Ulm/RKU, ist Seni­or­au­tor der Fach­ver­öf­fent­li­chung (Foto: Eber­hardt/Uni Ulm)