Initiative zur Bekämpfung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Interdisziplinärer Appell aus Forschung und Fachpolitik

Erst mit der Jahrhundertwende wurde die gewaltfreie Erziehung ins deutsche Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt und löste das frühere, sogenannte „Väterliche Züchtigungsrecht“ ab. Dieser politische Schritt, der damals auch von Teilen des Parlaments als reine Symbolpolitik kritisiert wurde, hat seine Wirkung nicht verfehlt: Einstellungen von Eltern zu Körperstrafen haben sich deutlich zum Positiven gewandelt, wie eine Repräsentativuntersuchung am Kompetenzzentrum Kinderschutz in der Medizin in Baden-Württemberg am Universitätsklinikum Ulm, mit Unterstützung des Deutschen Kinderschutzbundes und UNICEF Deutschland, 20 Jahre nach der Einführung der gewaltfreien Erziehung zeigte.

Mittlerweile hat die Weltgemeinschaft erkannt, dass gewaltfreies Aufwachsen eine der Grundbedingungen einer nachhaltigen Entwicklung ist. In den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen gibt es das Ziel 16 „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“ welches fordert, Missbrauch und Ausbeutung von Kindern, den Kinderhandel, Folter und alle Formen von Gewalt gegen Kinder zu beenden. Die Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder steht vor neuen Herausforderungen durch die Digitalisierung. Weltweit umspannende Netze zur sexuellen Ausbeutung von Kindern führen dazu, dass Täter*innen in Deutschland Taten aus der Ferne beauftragen, um beim Tatgeschehen digital dabei zu sein. Hierbei handelt es sich um organisierte Gewalt und Ausbeutung. Krisen und Kriege haben das Leid gemehrt und die Schutzlosigkeit von Flüchtenden führt nicht selten dazu, dass ihre prekäre Situation sexuell ausgebeutet wird.

Bislang gab es in diesem Jahrhundert in jedem Koalitionsvertrag und auch in den meisten Parteiprogrammen vor Wahlen starke familienpolitische Akzente und Impulse für den Kinderschutz. Frühe Hilfen wurden nach der Durchführung von Modellprojekten, wie zum Beispiel dem Projekt „Guter Start ins Kinderleben“ (in Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz und Thüringen), flächendeckend eingeführt und auf eine gesetzliche Grundlage gestellt.

Der sogenannte „Missbrauchsskandal 2010“ führte zu einer breiteren öffentlichen Wahrnehmung sexualisierter Gewalt gegen Kinder in Institutionen und in der Familie. Erstmals wurde seit dieser Zeit die Betroffenensicht zunehmend stärker berücksichtigt und Erfahrungsexpertise von Betroffenen in Forschung und Entwicklung von Schutzkonzepten und Hilfen mit einbezogen.

Kurz vor dem Zusammenbruch der Ampelkoalition stand ein Gesetzentwurf „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ vor der Verabschiedung, der die Strukturen der „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ (UBSKM) verstetigen sollten. Auch weitere wichtige Initiativen wie die Medizinische Kinderschutzhotline, die vom Kompetenzzentrum Kinderschutz in der Medizin in Baden-Württemberg in Ulm initiiert wurde, sollten in diesem Gesetz ihre rechtliche Verankerung erhalten. Die erste Lesung des Gesetzes und der offensichtliche hohe Konsens in der Expertenanhörung im zuständigen Familienausschuss legten nahe, dass das Gesetz unmittelbar vor seiner Verabschiedung nach zweiter und dritter Lesung stand. Mit der neuen Wahlperiode werden die bisherigen Entwürfe jedoch hinfällig und unter Umständen nicht weiterverfolgt.

Prof. Dr. Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm forscht seit vielen Jahren zum Kinderschutz und zur Versorgung traumatisierter Kinder und Jugendlicher und setzt sich auch gesellschaftlich in zahlreichen Gremien, z.B. im Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen, für diese Themen ein:

„Bei allem Verständnis dafür, dass in der jetzigen Situation Wahlprogramme sehr schnell erstellt werden mussten, ist es doch erschreckend, dass bei den meisten Parteien kaum familienpolitische Themen genannt werden und –25 Jahre nach Einführung der gewaltfreien Erziehung ins Bundesgesetzbuch – Kinderschutz quasi keine Rolle in den Parteiprogrammen und in der aktuellen politischen Debatte spielt. Dabei sind die Herausforderungen durch die digitale Entwicklung riesig. Die Digitalisierung bietet aber auch Chancen im Kinderschutz, die mit neuer Forschung und technischen Entwicklungen im Bereich der KI aufgegriffen werden müssen.“

Ad hoc hat sich in dieser Situation eine interdisziplinäre Gruppe von Wissenschaftler*innen zusammengetan, um in einem interdisziplinären Appell zu fordern, dass das bundespolitische Engagement gegen sexuelle Gewalt nicht unterbrochen werden darf und weiter gestärkt werden muss.

Die Erstunterzeichnenden verbreiten diesen Appell, um bei aller verständlicher Aufregung über die weltpolitische Lage darauf hinzuweisen, dass der Schutz im Inneren, insbesondere der Schutz der Schwächsten darüber nicht vernachlässigt werden darf.

Sie finden den Apell in der Anlage. Der Appell wird auch über andere Kanäle und von den Institutionen der anderen beteiligten Erstunterzeichner verbreitet.

Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder-​ und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie