Frühe Hilfe für Kin­der mit gene­ti­scher Adi­po­si­tas

Stu­die am Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Ulm zeigt neue Wege auf

Über­ge­wicht ist nicht gleich Über­ge­wicht. Bei Kin­dern, die eine sel­tene, gene­tisch bedingte Form von extre­mem, früh­kind­li­chem Über­ge­wicht auf­wei­sen, spricht man von einer mono­ge­nen Adi­po­si­tas. For­scher*innen der Kli­nik für Kinder-​ und Jugend­me­di­zin am Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Ulm (UKU) haben nun her­aus­ge­fun­den, wie die Erkran­kung durch ein gene­ti­sches Scree­ning zuver­läs­sig dia­gnos­ti­ziert und ent­spre­chend behan­delt wer­den kann. Die Stu­die wurde in Zusam­men­ar­beit mit fünf wei­te­ren euro­päi­schen Zen­tren für Kinder-​ und Jugend­ge­sund­heit in Paris, Cam­bridge, Rot­ter­dam, Madrid und Ber­lin durch­ge­führt und in der renom­mier­ten wis­sen­schaft­li­chen Fach­zeit­schrift Lan­cet Child & Ado­les­cent Health ver­öf­fent­licht.

Mono­gene Adi­po­si­tas ist eine sehr sel­tene Form der Fett­lei­big­keit, die durch eine Muta­tion in einem ein­zel­nen Gen ver­ur­sacht wird – daher der Name (mono = eins, Gen = Erb­an­lage). Diese Form unter­schei­det sich deut­lich von der weit ver­brei­te­ten, soge­nann­ten poly­ge­nen oder mul­ti­fak­to­ri­el­len Adi­po­si­tas, bei der viele Gene und Umwelt­fak­to­ren eine Rolle spie­len. Die gene­ti­schen Ver­än­de­run­gen betref­fen meist Gene im Leptin-​Melanokortin-Signalweg, der im Hypo­tha­la­mus, einem Teil des Gehirns, die Regu­la­tion von Hun­ger, Sät­ti­gung und Ener­gie­ver­brauch steu­ert. Muta­tio­nen kön­nen dazu füh­ren, dass Betrof­fene selbst bei aus­rei­chen­der oder über­mä­ßi­ger Nah­rungs­auf­nahme kein Sät­ti­gungs­ge­fühl ent­wi­ckeln. Bereits im frü­hen Kin­des­al­ter kommt es dadurch zu star­kem Über­ge­wicht, das sich ohne gezielte Behand­lung kaum kon­trol­lie­ren lässt.

Kin­der mit mono­ge­ner Adi­po­si­tas lei­den nicht nur an einem stän­di­gen Hun­ger­ge­fühl und einer aus­ge­präg­ten früh­kind­li­chen Fett­lei­big­keit, son­dern haben auch ein erhöh­tes Risiko für gesund­heit­li­che Pro­bleme wie Herz-​Kreislauf-Erkrankungen sowie psy­chi­sche Belas­tun­gen wie Depres­sion, Stig­ma­ti­sie­rung und Dis­kri­mi­nie­rung. Pro­fes­sor Dr. Mar­tin Wabitsch, Sek­ti­ons­lei­ter der Päd­ia­tri­schen Endo­kri­no­lo­gie und Dia­be­to­lo­gie am UKU und Stell­ver­tre­ten­der Stand­ort­di­rek­tor des Deut­schen Zen­trums für Kinder-​ und Jugend­ge­sund­heit (DZKJ) Ulm, erläu­tert: „Betrof­fene Kin­der ste­hen vor enor­men phy­si­schen und psy­chi­schen Her­aus­for­de­run­gen, die ihr Leben und das ihrer Fami­lien stark beein­träch­ti­gen kön­nen. Bis­he­rige Behand­lungs­op­tio­nen wie inten­sive Lebens­stil­in­ter­ven­tio­nen oder Magen­ver­klei­ne­run­gen waren wenig erfolg­reich. Des­halb sind wir sehr froh, dass heute ziel­ge­rich­tete The­ra­pien, die den Leptin-​Melanokortin-Signalweg adres­sie­ren, für bestimmte For­men der mono­ge­nen Adi­po­si­tas zur Ver­fü­gung ste­hen.“ Mit der Ver­füg­bar­keit die­ser The­ra­pien gewinnt auch die früh­zei­tige Dia­gno­se­stel­lung mit­tels gene­ti­scher Testung zuneh­mend an Bedeu­tung.

Stu­die lie­fert neue Erkennt­nisse zur Dia­gno­se­stel­lung

In der kli­ni­schen Pra­xis ist die Iden­ti­fi­ka­tion von Pati­ent*innen mit Ver­dacht auf eine mono­gene Adi­po­si­tas oft­mals schwie­rig, da sich diese zunächst nur schwer von jenen mit mul­ti­fak­to­ri­el­ler Adi­po­si­tas unter­schei­den las­sen und ver­läss­li­che Dia­gno­se­kri­te­rien feh­len. Die For­sche­rin­nen und For­scher unter­such­ten im Rah­men der Stu­die die natür­li­che Ent­wick­lung von Pati­ent*innen mit mono­ge­ner Adi­po­si­tas in der frü­hen Kind­heit und ermit­tel­ten cha­rak­te­ris­ti­sche, früh­kind­li­che Wachs­tums­mus­ter.

„Die Dia­gnose der mono­ge­nen Adi­po­si­tas stellt eine beson­dere Her­aus­for­de­rung in der Kinder-​ und Jugend­me­di­zin dar, da es bis­lang an ver­läss­li­chen Kri­te­rien man­gelte. Die Ergeb­nisse der For­schungs­ar­beit sind des­halb weg­wei­send und spie­geln den gro­ßen Erfolg der inter­na­tio­na­len Koope­ra­tion wider, der direk­ten Ein­fluss auf die Ver­sor­gung unse­rer jüngs­ten Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten hat“, so Pro­fes­sor Dr. Miriam Erla­cher, Ärzt­li­che Direk­to­rin der Kli­nik für Kinder-​ und Jugend­me­di­zin am UKU.

Fun­dierte Grund­lage für gene­ti­sche Scree­nings

In der Stu­die wur­den Wachs­tum und Ent­wick­lung von 147 Kin­dern mit der sel­te­nen Form von mono­ge­ner Adi­po­si­tas unter­sucht. Es zeigte sich, dass bestimmte Ver­än­de­run­gen im Leptin-​Melanocortin-Signalweg – ins­be­son­dere, wenn beide Gen­ko­pien betrof­fen sind (bial­le­li­sche Muta­tion) – schon ab dem sechs­ten Lebens­mo­nat zu einem deut­lich erhöh­ten Body-​Mass-Index (BMI) füh­ren. Im Ver­gleich dazu ent­wi­ckel­ten Kin­der mit nur einer betrof­fe­nen Gen­ko­pie oder mit nicht-​genetischer Adi­po­si­tas deut­lich weni­ger star­kes Über­ge­wicht.

„Die Unter­su­chun­gen an einer der größ­ten Kohor­ten mit mono­ge­ner Adi­po­si­tas welt­weit zei­gen, dass es mög­lich ist, Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten basie­rend auf ihrer früh­kind­li­chen BMI-​Entwicklung für gene­ti­sche Tests zu iden­ti­fi­zie­ren und zu unter­schei­den“, erklärt Dr. Ste­fa­nie Zorn, Erst­au­torin der inter­na­tio­na­len Stu­die. „Diese Erkennt­nisse wer­den zukünf­tig die gene­ti­sche Dia­gnos­tik erleich­tern und früh­zei­tige Inter­ven­ti­ons­mög­lich­kei­ten ermög­li­chen.“

https://www.thel­an­cet.com/jour­nals/lan­chi/article/PIIS2352-4642(25)00065-3/full­text

Sym­bol­bild, Quelle: pix­a­bay

Pro­fes­sor Dr. Mar­tin Wabitsch, Sek­ti­ons­lei­ter der Päd­ia­tri­schen Endo­kri­no­lo­gie und Dia­be­to­lo­gie am UKU und Stell­ver­tre­ten­der Stand­ort­di­rek­tor des Deut­schen Zen­trums für Kinder-​ und Jugend­ge­sund­heit (DZKJ) Ulm

Dr. Ste­fa­nie Zorn, Wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin im Bereich kli­ni­sche For­schung der Sek­tion Päd­ia­tri­schen Endo­kri­no­lo­gie und Dia­be­to­lo­gie am UKU und Erst­au­torin der inter­na­tio­na­len Stu­die