For­schungs­pro­jekt ana­ly­siert Bot­schaf­ten und For­de­run­gen aus Brie­fen an die ehe­ma­lige Unab­hän­gige Beauf­tragte zur Auf­ar­bei­tung sexu­el­len Kin­des­miss­brauchs vor zehn Jah­ren

Zen­tra­les Ergeb­nis: Erreichte Erfolge und Ver­bes­se­run­gen im „Kampf“ um ein „nor­ma­les Leben“ wer­den von Betrof­fe­nen als fra­gil erlebt und kön­nen jeder­zeit erneut bedroht wer­den. Claim „Spre­chen hilft!“ der gleich­na­mi­gen Kam­pa­gne von 2010 weckte bei Betrof­fe­nen hohe Erwar­tun­gen an Unter­stüt­zung. Doch es fehlt auch wei­ter­hin an nied­rig­schwel­li­gen, unkom­pli­zier­ten Unterstützungs-​ und Hil­fe­sys­te­men.

Die ehe­ma­lige Unab­hän­gige Beauf­tragte zur Auf­ar­bei­tung sexu­el­len Kin­des­miss­brauchs, Dr. Chris­tine Berg­mann, Bun­des­mi­nis­te­rin a. D., erhielt in ihrer Amts­zeit als Beauf­tragte (2010/11) und noch bis Juni 2012 über 900 an sie per­sön­lich adres­sierte Briefe und E-​Mails. Die Ergeb­nisse des For­schungs­vor­ha­bens„Aus­wer­tungs­pro­jekt Briefe“ wur­den am 9. März 2021 erst­mals auf einer digi­ta­len Abschluss­ta­gung öffent­lich vor­ge­stellt und aus ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven gemein­sam mit Expert*innen aus Poli­tik, Wis­sen­schaft, Fach­pra­xis und Betrof­fe­nen dis­ku­tiert.

Aus­ge­wer­tet wur­den die Briefe von den For­schen­den­teams der Kli­nik für Kinder-​ und Jugend­psych­ia­trie/Psy­cho­the­ra­pie Ulm und des Sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen For­schungs­in­sti­tuts zu Geschlech­ter­fra­gen / FIVE Frei­burg (SoFFI F.). Das Pro­jekt wurde geför­dert durch den Unab­hän­gi­gen Beauf­trag­ten für Fra­gen des sexu­el­len Kin­des­miss­brauchs, Johannes-​Wilhelm Rörig.

Zum Hin­ter­grund: Im Jahr 2010 initi­ierte Dr. Chris­tine Berg­mann die Kam­pa­gne „Spre­chen hilft!“, deren Ziel es war, Betrof­fene zu ermu­ti­gen, sich ihrer Tele­fo­ni­schen Anlauf­stelle anzu­ver­trauen und ihre Anlie­gen und For­de­run­gen in den poli­ti­schen Pro­zess zur Ver­bes­se­rung von Schutz und Hil­fen bei sexu­el­ler Gewalt ein­zu­brin­gen. Viele tau­sende Betrof­fene mel­de­ten sich dar­auf­hin bei der Tele­fo­ni­schen Anlauf­stelle – und viele Men­schen schrie­ben ihr auch per­sön­lich. „Es bedeu­tet mir viel, dass die Aus­wer­tung die­ser wich­ti­gen Zeit­zeug­nisse jetzt einer brei­ten Öffent­lich­keit zugäng­lich gemacht wer­den. Viele Men­schen ver­trau­ten sich zum ers­ten Mal an, was ihnen als Kind ange­tan wurde und wel­che Aus­wir­kun­gen dies auf ihr Leben hatte“, so Dr. Chris­tine Berg­mann. „Ich war erschüt­tert von den Lebens­ge­schich­ten, aber auch beein­druckt von dem Mut, und auch der Kraft, mit der viele Betrof­fene kon­krete Anlie­gen vor­brach­ten, um mit ihrer Geschichte Poli­tik und Gesell­schaft zu bewe­gen, Kin­der künf­tig bes­ser zu schüt­zen.“

Was ver­an­lasste Betrof­fene zu schrei­ben? Und wel­che posi­ti­ven wie kri­ti­schen Rück­mel­dun­gen wur­den gege­ben?

Die­sen Fra­gen wurde nun – zehn Jahre nach der Kam­pa­gne „Spre­chen hilft!“ – im „Aus­wer­tungs­pro­jekt Briefe“ anhand von 229 Brie­fen und E-​Mails von Men­schen, die hierzu vorab ihre Ein­wil­li­gung gege­ben hat­ten, nach­ge­gan­gen. Die Briefe und E-​Mails wur­den unter par­ti­zi­pa­ti­ver Ein­bin­dung von Betrof­fe­nen quan­ti­ta­tiv und qua­li­ta­tiv aus­ge­wer­tet, um Betrof­fe­nen­grup­pen und Tat­kon­texte bes­ser beschrei­ben und um das Wis­sen über die Ver­ar­bei­tung sexua­li­sier­ter Gewalt in der Kind­heit erwei­tern zu kön­nen.

„Aus den Erfah­run­gen, die die Betrof­fe­nen damals mach­ten, las­sen sich zeit­un­ab­hän­gige Fak­to­ren her­aus­ar­bei­ten, die wei­ter­hin von gro­ßer Aktua­li­tät sind und auf deut­li­che Män­gel, auch der gegen­wär­ti­gen Situa­tion, hin­wei­sen. Viele Betrof­fene hat­ten in die Kam­pa­gne „Spre­chen hilft!“ Hoff­nun­gen vor allem in Bezug auf schnelle Hilfe und recht­li­che Ver­än­de­run­gen gesetzt, die so nicht zu erfül­len waren“, berich­tet Prof. Dr. Jörg M. Fegert, damals wie heute Pro­jekt­lei­ter und ärzt­li­cher Direk­tor der Kinder-​ und Jugend­psych­ia­trie/Psy­cho­the­ra­pie am Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Ulm, „des­halb muss der Claim der sehr erfolg­rei­chen Kam­pa­gne mit Blick auf indi­vi­du­elle Erwar­tun­gen und Schick­sale aus heu­ti­ger Sicht auch kri­tisch reflek­tiert wer­den.“

Neben The­men in Bezug auf die Kam­pa­gne und ihre Wir­kung wer­den die indi­vi­du­el­len Fol­gen des Miss­brauchs und die anhal­ten­den Belas­tun­gen für Betrof­fene Schwer­punkt der Tagung sein: Anhand der erzähl­ten Lebens­ge­schich­ten soll eine Bilanz der Ent­wick­lun­gen der letz­ten zehn Jahre im Bereich der Hil­fe­an­ge­bote für Betrof­fene sexu­el­len Miss­brauchs vor­ge­nom­men und Anfor­de­run­gen an geeig­nete Unter­stüt­zung dis­ku­tiert wer­den. Prof. Dr. Bar­bara Kave­mann vom Sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen For­schungs­in­sti­tut zu Geschlech­ter­fra­gen (SoFFI F.): „In den Brie­fen und E-​Mails wurde häu­fig dafür gedankt, dass es „end­lich“ eine Stelle gab, der Betrof­fene ihre Geschichte berich­ten konn­ten und wo sie ernst genom­men wur­den. Man­che schrie­ben, dass sie um jede Unter­stüt­zung „kämp­fen“ müs­sen. Es zeigte sich, wie müh­sam der Weg zu pas­sen­der The­ra­pie für viele ist. Es ist wich­tig, Kin­dern und Jugend­li­chen früh­zei­tig Hilfe zugäng­lich zu machen.“

Zen­trale Ergeb­nisse des Briefe-​Projekts


Inhalte und Anlie­gen:
Dr. Chris­tine Berg­mann wurde als wich­tige Ansprech­per­son gese­hen und in fast allen Brie­fen per­sön­lich adres­siert. Es fin­den sich per­sön­li­che Bit­ten und Wün­sche an Frau Dr. Berg­mann. Zudem wur­den von ihr Rat­schläge erhofft - als enga­gierte und ver­trau­ens­wür­dige Per­son und auch in ihrer poli­ti­schen Rolle. Die Rück­mel­dun­gen zur Kam­pa­gne „Spre­chen hilft!“ sind über­wie­gend posi­tiv. Es wurde Erleich­te­rung dar­über zum Aus­druck gebracht, dass „end­lich“ eine ent­spre­chende Stelle ein­ge­rich­tet wurde, an die sich gewandt wer­den kann. Es wurde aber auch Skep­sis aus­ge­drückt und Miss­trauen dar­über, ob Ver­än­de­run­gen nach jah­re­lan­gen Erfah­run­gen von Miss­ach­tung und Nicht­be­ach­tung tat­säch­lich erwart­bar seien. Eine Gruppe der Schrei­ben­den ver­steht ihre Schrei­ben zudem als Bei­trag zu einer brei­ten Auf­ar­bei­tung sexu­el­len Miss­brauchs über den eige­nen Fall hin­aus und einer öffent­li­chen Sen­si­bi­li­sie­rung und Sicht­bar­ma­chung die­ser The­ma­tik. Die betrof­fe­nen Schrei­ben­den reflek­tie­ren zum Teil den Schreib­pro­zess als einer­seits her­aus­for­dernde Auf­gabe, die mit Hür­den ver­bun­den ist und ande­rer­seits als hilf­rei­ches Ele­ment des eige­nen Bewäl­ti­gungs­pro­zes­ses.

Anzahl und Länge der Schrei­ben:
Betrof­fene ver­fass­ten zwi­schen einem und 16 Schrei­ben; das längste davon ist 26 Sei­ten lang, andere bestehen aus weni­gen Zei­len.

Anga­ben zu den schrei­ben­den Per­so­nen und dem Kon­text des Miss­brauchs:
Etwa 2/3 der Schrei­ben­den sind weib­lich und ebenso viele selbst Betrof­fene sexu­el­len Kin­des­miss­brauchs. Die berich­tete sexua­li­sierte Gewalt fand fast aus­schließ­lich in der Ver­gan­gen­heit (98 %) statt und dau­erte meist bis zu zehn Jahre (88 %) oder län­ger an. Die Hälfte der beschrie­be­nen Miss­brauchs­fälle fand im fami­liä­ren Kon­text statt, etwa 1/3 im insti­tu­tio­nel­len Kon­text wie Heim oder Inter­nat. Die Gruppe der Schrei­ben­den ähnelte der Gruppe, die zu der Zeit die Tele­fo­ni­sche Anlauf­stelle der Beauf­trag­ten kon­tak­tierte. Ein Unter­schied zwi­schen den bei­den Grup­pen besteht im Alter: Die Schrei­ben­den waren im Durch­schnitt 51 - 55 Jahre alt, die Anru­fen­den der Tele­fo­ni­schen Anlauf­stelle waren eher jün­ger.

Anga­ben zur eige­nen Bewäl­ti­gung:
In zahl­rei­chen Schrei­ben, in denen die Schrei­ben­den über 50 Jahre sind, wird ein Rück­blick auf Jahr­zehnte eige­ner bio­gra­fi­scher Ent­wick­lun­gen gewor­fen und das eigene Leben bilan­ziert. Dabei zeigt sich: Der Umgang mit den eige­nen Gewalt­er­fah­run­gen und die „Leis­tung zu leben“ las­sen sich nicht als sta­ti­sche Ent­wick­lun­gen beschrei­ben, son­dern als eine Pen­del­be­we­gung: Pha­sen von Belas­tun­gen und Kri­sen kön­nen sich abwech­seln mit Pha­sen der Sta­bi­li­sie­rung und des Gefühls, es geschafft zu haben. Erin­ne­run­gen und Aus­wir­kun­gen des Miss­brauchs kön­nen auch nach Jah­ren von Sta­bi­li­tät wie­der auf­bre­chen und im Bewäl­ti­gungs­pro­zess zurück­wer­fen bzw. vor neue Her­aus­for­de­run­gen stel­len.

Zen­tra­les Thema: Feh­lende Unter­stüt­zungs­sys­teme
Eine wesent­li­che Rolle in der Bewäl­ti­gung des Erleb­ten kommt den Erfah­run­gen mit dem Unter­stüt­zungs­sys­tem und ande­rer Hil­fen zu, die aus den Zuschrif­ten her­aus­ge­ar­bei­tet wer­den konn­ten. Poli­ti­sche For­de­run­gen, die von den Schrei­ben­den for­mu­liert wur­den, las­sen sich vor die­sem Hin­ter­grund ein­ord­nen. Meist blieb den Betrof­fe­nen Unter­stüt­zung und Aner­ken­nung ver­sagt, die Suche nach adäqua­ter The­ra­pie oder öko­no­mi­schen Hil­fen wird als Odys­see beschrie­ben. Schrei­bende, die von Miss­brauch in der DDR berich­te­ten, beschrie­ben noch weni­ger posi­tive Erfah­run­gen mit dem Hil­fe­sys­tem als die, die damals in der Bun­des­re­pu­blik leb­ten.

Unter­stützt wurde das Briefe-​Projekt vom Unab­hän­gi­gen Beauf­trag­ten für Fra­gen des sexu­el­len Kin­des­miss­brauchs, Johannes-​Wilhelm Rörig: „Chris­tine Berg­mann hat als erste Miss­brauchs­be­auf­tragte den Grund­stein dafür gelegt, dass die Exper­tise von Betrof­fe­nen in der Poli­tik ernst­ge­nom­men und ein­be­zo­gen wird. Das Briefe-​Projekt zeigt, wie wich­tig es war und ist, Stim­men von Betrof­fe­nen Gewicht zu geben. Es zeigt aber auch, wie ent­täu­schend und zer­mür­bend es ist, wenn Erwar­tun­gen geschürt und dann ent­täuscht wer­den. Poli­tik in Bund und Län­dern muss sich noch viel kon­se­quen­ter dem Kampf gegen sexu­el­len Miss­brauch und sei­nen Fol­gen stel­len und ihn end­lich als natio­nale Auf­gabe von größ­ter gesell­schafts­po­li­ti­scher Dimen­sion begrei­fen.“

Wei­tere Infor­ma­tio­nen fin­den Sie hier.

Quelle: Universitätsklinikum Ulm