Ein­fühl­same Worte statt Beru­hi­gungs­spritze

Ulmer Stu­die zu Gender-​Effekten bei der not­ärzt­li­chen Behand­lung psych­ia­tri­scher Not­fälle

Wo der Not­arzt eher zur Spritze greift, ver­traut die Not­ärz­tin stär­ker auf eine empa­thi­sche Pati­en­ten­an­spra­che. Eine Stu­die des Uni­kli­ni­kums Ulm hat erst­mals gezeigt, dass es sta­tis­tisch signi­fi­kante geschlechts­spe­zi­fi­sche Unter­schiede bei der prähos­pi­ta­len Behand­lung psych­ia­tri­scher Not­fälle gibt. Dabei wurde deut­lich, dass sich Not­ärz­tin­nen häu­fi­ger gegen inva­sive Maß­nah­men wie das Sprit­zen von Beru­hi­gungs­mit­teln ent­schei­den. Um zu dees­ka­lie­ren, ver­zich­ten Frauen im not­ärzt­li­chen Dienst auch häu­fi­ger als ihre männ­li­chen Kol­le­gen auf die Mes­sung von Vital­pa­ra­me­tern.

Psych­ia­tri­sche Not­fälle sind für Not­ärzte und Not­ärz­tin­nen häu­fig eine große Her­aus­for­de­rung. Anders als bei einem Herz­in­farkt, einem Schlag­an­fall oder einem Kno­chen­bruch, für die es klar defi­nierte prähos­pi­tale Hand­lungs­ab­läufe gibt, sind die indi­vi­du­el­len Spiel­räume für die Behand­lung psych­ia­tri­scher Not­fälle grö­ßer. „Sol­che Not­fälle tre­ten häu­fig viel­sei­ti­ger in Erschei­nung als bei soma­ti­schen Krank­heits­bil­dern und sie zei­gen oft eine unbe­re­chen­bare Ent­wick­lung. Teil­weise sind sie sogar mit einer erheb­li­chen Gefähr­dung für das ver­sor­gende Per­so­nal und die Betrof­fe­nen selbst ver­bun­den“, erklärt Pro­fes­sor Car­los Schönfeldt-​Lecuona, Stell­ver­tre­ten­der Lei­ten­der Ober­arzt an der Kli­nik für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie III des Uni­ver­si­täts­kli­ni­kums Ulm. Der Medi­zi­ner ist Mit­au­tor einer Stu­die, die unter­sucht hat, ob Not­ärzte und Not­ärz­tin­nen die­sen Spiel­raum unter­schied­lich nut­zen. Die Unter­su­chung, an der auch die Ulmer Kli­nik für Anäs­the­sio­lo­gie und Inten­siv­me­di­zin betei­ligt ist, hat gezeigt, dass es in der Tat geschlechts­spe­zi­fi­sche Unter­schiede bei der Behand­lung psych­ia­tri­scher Not­fälle gibt.

Für die Stu­die wur­den ins­ge­samt 2882 Pro­to­kolle von Not­arzt­ein­sät­zen mit psych­ia­tri­scher Indi­ka­tion ana­ly­siert. Ein­be­zo­gen wur­den Not­fal­l­ein­sätze der drei Ulmer Not­arzt­stand­orte Esels­berg, Michels­berg und Safran­berg von 2015 bis 2021. Die Ein­sätze wur­den kate­go­ri­siert und quan­ti­fi­ziert: Rund 47 Pro­zent der Fälle waren auf eine Into­xi­ka­tion mit Alko­hol oder ande­ren Dro­gen zurück­zu­füh­ren, 17 Pro­zent auf sui­zi­da­les Ver­hal­ten, 10 Pro­zent befan­den sich in einer psy­chi­schen Aus­nah­me­si­tua­tion, 9 Pro­zent der Fälle zeig­ten Anzei­chen einer moto­ri­schen Hyper­ak­ti­vi­tät (Agi­ta­tion), eben­falls 9 Pro­zent die einer Angst-​ oder Panik­stö­rung und rund 8 Pro­zent der Fälle fie­len unter „sons­tige psych­ia­tri­sche Erkran­kun­gen“. Ins­ge­samt 68 Pro­zent der Not­fall­pa­ti­en­ten und -​patientinnen wur­den nach der not­ärzt­li­chen Inter­ven­tion sta­tio­när auf­ge­nom­men, und von die­sen kam ein Fünf­tel direkt in die psych­ia­tri­sche Akut­be­hand­lung. Durch­schnitt­lich 24 Ärz­tin­nen und 31 Ärzte lei­te­ten pro Unter­su­chungs­jahr die Not­fal­l­ein­sätze.

„Für die Unter­su­chung haben wir die not­ärzt­li­che Inter­ven­tion nach Geschlech­tern ana­ly­siert“, sagt Celine Schwar­zer, die im Rah­men ihrer Dis­ser­ta­tion an der Daten­er­he­bung betei­ligt war und eben­falls Mit­au­torin der im Fach­jour­nal BMC Emer­gency Medi­cine ver­öf­fent­lich­ten Stu­die ist. Für die retro­spek­tive Kohor­ten­stu­die wur­den die Behand­lungs­pro­to­kolle sys­te­ma­tisch nach doku­men­tier­ten Behand­lungs­schrit­ten aus­ge­wer­tet. Dazu zähl­ten bei­spiels­weise Maß­nah­men zur Siche­rung der Atem­wege und der Herz­kreis­lauf­funk­tion. Erfasst wurde auch das Moni­to­ring der Kör­per­funk­tio­nen wie Puls, Blut­druck, Tem­pe­ra­tur und Blut­zu­cker­mes­sung. War die Gabe von Medi­ka­men­ten oder eines Anti­dots not­wen­dig? Wurde ein Kri­sen­in­ter­ven­ti­ons­team ange­for­dert?

Bei der sta­tis­ti­schen Aus­wer­tung zeigte sich, dass Not­ärzte in psych­ia­tri­schen Not­fall­si­tua­tio­nen mehr als dop­pelt so häu­fig intra­ve­nöse Hyp­no­tika ver­ab­reicht hat­ten als ihre weib­li­chen Kol­le­gin­nen. Gerade bei Angst-​ oder Panik­stö­run­gen gelang es den Not­ärz­tin­nen gegen­über ihren männ­li­chen Kol­le­gen signi­fi­kant häu­fi­ger, auf weni­ger inva­sive Maß­nah­men zurück­zu­grei­fen. Wäh­rend die Not­ärzte also eher auf die Wir­kung einer Spritze setz­ten, zeig­ten die Daten, dass Not­ärz­tin­nen den Fokus mehr auf eine empa­thi­sche Pati­en­ten­an­spra­che leg­ten. Außer­dem gab es Hin­weise dar­auf, dass die Frauen nach Abwä­gung der Vor- und Nach­teile häu­fi­ger auf die Mes­sung von Vital­pa­ra­me­tern ver­zich­tet haben, um mög­li­che Eska­la­tio­nen zu ver­hin­dern. Denn medi­zi­ni­sche Hand­lun­gen, selbst wenn sie nur dazu die­nen, Blut­druck und Puls zu mes­sen, wer­den von psych­ia­tri­schen Pati­en­ten in man­chen Fäl­len als über­grif­fig emp­fun­den.

Keine geschlech­ter­be­ding­ten Unter­schiede gab es bei der Häu­fig­keit der Durch­set­zung einer indi­zier­ten Kran­ken­haus­auf­nahme gegen den Wil­len des Pati­en­ten. Doch die männ­li­chen Not­ärzte grif­fen auch dabei häu­fi­ger zur Spritze und ver­ab­reich­ten ein Hyp­no­ti­kum. „Die Ein­wei­sung in ein psych­ia­tri­sches Kran­ken­haus gegen den Pati­en­ten­wil­len in Kom­bi­na­tion mit der erzwun­ge­nen Ver­ab­rei­chung von Psy­cho­phar­maka zur Beru­hi­gung, Sedie­rung und Betäu­bung sind für den Betrof­fe­nen als Maxi­mal­es­ka­la­tion der Inter­ven­tion zur sehen und bedeu­ten mas­sive Ein­griffe in die Inte­gri­tät der Per­so­nen“, erläu­tert Dr. Bene­dikt Schick. Der Ober­arzt an der Kli­nik für Anäs­the­sio­lo­gie und Inten­siv­me­di­zin ist Erst­au­tor der Stu­die. Sol­che Maxi­mal­in­ter­ven­tio­nen waren bei den Not­ärz­tin­nen sel­te­ner. Der ent­schei­dende Fak­tor scheint dabei aber nicht das Geschlecht an sich, son­dern die geschlechts­spe­zi­fi­schen Unter­schiede in der Kom­mu­ni­ka­tion zu sein.

„Das Ergeb­nis der Ulmer Unter­su­chung stützt bereits bekannte Befunde, dass Ärz­tin­nen im Ver­gleich zu ihren männ­li­chen Kol­le­gen einen empa­thi­sche­ren Kom­mu­ni­ka­ti­ons­stil pfle­gen. Es scheint ihnen durch akti­ves Zuhö­ren und posi­ti­ven Zuspruch bes­ser zu gelin­gen, eine ver­trau­ens­vol­len Arzt-​Patienten-Beziehung auf Augen­höhe auf­zu­bauen und sel­te­ner eine Inter­ven­ti­ons­es­ka­la­tion zu ris­kie­ren“, meint Pro­fes­sor Schönfeldt-​Lecuona.

Wei­tere Infor­ma­tio­nen:
Dr. Bene­dikt Schick, Kli­nik für Anäs­the­sio­lo­gie und Inten­siv­me­di­zin, E-​Mail: bene­dikt.schick@uniklinik-​ulm.de

Publi­ka­ti­ons­hin­weis:e
Bene­dikt Schick, Ben­ja­min Mayer, Bet­tina Jung­wirth, Eber­hard Barth, Claus‑Mar­tin Muth, Chris­tine Eimer, Celine Schwar­zer and Car­los Schönfeldt-​Lecuona: Does the gen­der of emer­gency phy­si­ci­ans have an impact on the pre­hos­pi­tal care of psych­ia­tric emer­gen­cies? A retro­spec­tive cohort ana­ly­sis. In: BMC Emer­gency Medi­cine (2024) 24:201
https://doi.org/10.1186/s12873-024-01118-3

Text und Medi­en­kon­takt: Andrea Weber-​Tuckermann

Dr. Benedikt Schick mit Prof. Carlos Schönfeldt-Lecuona vor einem Notarztwagen

Dr. Bene­dikt Schick (l.) mit Prof. Car­los Schönfeldt-​Lecuona (r.) vor einem Not­arzt­wa­gen