Drogen-​Trip ins Kran­ken­haus

Ulmer Stu­die zeigt starke Zunahme von Cannabis-​Psychosen

Seit 2011 hat sich am Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Ulm die Zahl der Psych­ia­trie­pa­ti­en­ten mit Cannabis-​Psychose ver­viel­facht. Zu die­sem Ergeb­nis kommt eine Stu­die der Kli­nik für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie III. Mög­li­che Ursa­che ist der hohe THC-​Wert von hoch­po­ten­ten Neu­züch­tun­gen sowie von syn­the­ti­schen Cannabis-​Produkten. Ein wei­te­rer Grund könnte die ab 2017 gel­tende gesetz­li­che Zulas­sung von medi­zi­ni­schem Can­na­bis sein, ver­mu­ten die Wis­sen­schaft­ler und Wis­sen­schaft­le­rin­nen. Ver­öf­fent­licht wur­den die Ergeb­nisse im Jour­nal of Cli­ni­cal Psy­cho­phar­ma­co­logy.

Hal­lu­zi­na­tio­nen, Wahn­vor­stel­lun­gen, Zer­fah­ren­heit und Ver­hal­tens­stö­run­gen: Diese Sym­ptome kön­nen bei einer Can­na­bis indu­zier­ten Psy­chose auf­tre­ten. „Für die Betrof­fe­nen ist diese Erfah­rung scho­ckie­rend, denn sie ver­lie­ren nicht nur den Bezug zur rea­len Welt, son­dern auch ihr inners­tes Selbst“, erklärt Pro­fes­sor Car­los Schönfeldt-​Lecuona von der Kli­nik für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie III am Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Ulm. Der Wis­sen­schaft­ler hat mit wei­te­ren Ulmer For­sche­rin­nen und For­scher in einer Stu­die unter­sucht, wie sich die Fall­zah­len der Cannabis-​Psychosen von 2011 bis 2019 ent­wi­ckelt haben. Das Ergeb­nis: Es gibt einen mas­si­ven Anstieg. Und das obwohl im Unter­su­chungs­zeit­raum weder für andere sub­stanzin­du­zierte Psy­cho­sen noch für endo­gene Psy­cho­sen eine Zunahme zu ver­zeich­nen war. Die Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­ler haben dafür in der Kli­nik für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie III eine Einzelzentrum-​Analyse durch­ge­führt und hier­für die Kranken-​ und Behand­lungs­da­ten von Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten unter­sucht, die in der Kli­nik sta­tio­när behan­delt wur­den. Diese Gesamt­zah­len schwan­ken im Unter­su­chungs­zeit­raum zwi­schen 1414 (2011) und 1270 (2019) und bele­gen, dass die Zahl der psych­ia­tri­schen Erkran­kun­gen und Ver­hal­tens­stö­run­gen ins­ge­samt in die­ser Zeit nicht grö­ßer gewor­den ist.

Wäh­rend im Jahr 2011 nur 7 Pati­en­ten und Pati­en­tin­nen wegen einer Cannabis-​induzierten Psy­chose behan­delt wur­den, waren es fünf Jahre spä­ter bereits 24 und 2019 schließ­lich sogar 59. Die meis­ten Fälle betref­fen junge Män­ner. Setzt man die Ein­zel­fälle ins Ver­hält­nis zu den Gesamt­pa­ti­en­ten­zah­len der in der psych­ia­tri­schen Kli­nik behan­del­ten Men­schen, wird der Anstieg noch deut­li­cher. So erhöhte sich die rela­tive Häu­fig­keit des Auf­tre­tens von Cannabis-​Psychosen von 0,5 Pro­zent (2011) auf 3,86 Pro­zent (2019). „Auch wenn die abso­lu­ten Häu­fig­kei­ten der Cannabis-​Psychosen ins­ge­samt eher gering erschei­nen, zeigt sich hier bei den rela­ti­ven Häu­fig­kei­ten fast eine Ver­acht­fa­chung des Aus­gangs­werts“, erklärt Kli­nik­kol­lege Pro­fes­sor Maxi­mi­lian Gahr, der eben­falls an der Stu­die betei­ligt war.

Eine Ursa­che für den Anstieg der Pati­en­ten­zah­len mit Cannabis-​Psychosen sehen die For­schen­den im teil­weise deut­lich erhöh­ten THC-​Gehalt von gene­tisch ver­än­der­ten Cannabis-​Sorten bezie­hungs­weise im hohen THC-​Wert von syn­the­ti­schem Can­na­bis, das immer leich­ter ver­füg­bar ist. Tetra­hy­dro­can­na­bi­nol (THC) ist eine psy­cho­ak­tive Sub­stanz, die beim Kif­fen von Can­na­bis für den Rausch ver­ant­wort­lich ist. Der zweite Haupt­wirk­stoff ist Can­na­bi­diol (CBD), dem eine ent­span­nende bis angst­lö­sende Wir­kung nach­ge­sagt wird, und der die Wir­kung von THC mög­li­cher­weise sogar abschwächt. Wäh­rend der THC-​Wert in den letz­ten Jah­ren von ehe­mals rund drei Pro­zent auf heute über 16 Pro­zent ange­stie­gen ist, ent­hal­ten viele hoch­ge­züch­te­ten Can­na­bis­sor­ten, die für den Frei­zeit­kon­sum ange­bo­ten wer­den, aller­dings nur sehr wenig CBD. Mitt­ler­weile ist bekannt, dass nicht nur ein hoher THC-​Wert an sich, son­dern ins­be­son­dere das Miss­ver­hält­nis zwi­schen viel THC und wenig CBD ein erhöh­tes Risiko für das Auf­tre­ten von Cannabis-​Psychosen dar­stellt.

Ein wei­te­rer Grund sieht das Ulmer For­schungs­team, zu dem auch Wis­sen­schaft­ler der Kli­nik für Kinder-​ und Jugend­psych­ia­trie / Psy­cho­the­ra­pie gehö­ren, in der Ände­rung des recht­li­chen Rah­mens der Ver­schrei­bungs­pra­xis. Denn Anfang März 2017 wurde per Gesetz eine Ver­ord­nung von Can­na­bi­no­iden auf Rezept unter gewis­sen Umstän­den ermög­licht. Dies hat mög­li­cher­weise zur Folge, dass die gefähr­li­chen Neben­wir­kun­gen vor allem von ille­gal erwor­be­nen Can­na­bis­pro­duk­ten unter­schätzt wer­den. „Trotz ihres Poten­zi­als als the­ra­peu­ti­sche Sub­stan­zen bei vie­len Stö­rungs­bil­dern ist der Ein­satz von Can­na­bi­no­iden mit einem nicht zu unter­schät­zen­den gesund­heit­li­chen Risiko ver­bun­den. Dies gilt ins­be­son­dere für Per­so­nen mit einer psy­chi­schen Vor­er­kran­kung. So sind eben immer mehr Cannabis-​Psychosen zu beob­ach­ten. Ande­rer­seits kommt es auch ver­stärkt zu Abhän­gig­kei­ten und zu schäd­li­chem Gebrauch“, erklärt Pro­fes­sor Schönfeldt-​Lecuona. So lässt sich in der Stu­die zei­gen, dass der Anstieg der Fälle ab 2017 noch einen Tick stär­ker aus­fällt.

Eine der­ar­tige Ent­wick­lung von Fall­zah­len hat auch auf die psych­ia­tri­sche Ver­sor­gung große Aus­wir­kun­gen. Auf­grund des Zuschnitts der Stu­die kön­nen die Wis­sen­schaft­ler und Wis­sen­schaft­le­rin­nen aller­dings noch nicht sagen, ob es sich um eine lokale Ent­wick­lung oder um einen all­ge­mei­nen Trend han­delt. „Es spricht alles dafür, dass wir es hier mit einer all­ge­mei­nen Ent­wick­lung zu tun haben, daher hal­ten wir es für ange­ra­ten, hier mit wei­te­ren und umfas­sen­de­ren Unter­su­chun­gen nach­zu­ha­ken“, so die Ulmer For­schen­den.
„Mit dem ‚Gesetz zur Ände­rung betäu­bungs­mit­tel­recht­li­cher und ande­rer Vor­schrif­ten‘ vom 6. März 2017 befin­den wir uns in einer Art bun­des­wei­tem Expe­ri­ment. Doch die gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Fol­gen sind noch unklar“, meint Pro­fes­sor Maxi­mi­lian Gahr. Auf jeden Fall emp­feh­len die Autoren der Stu­die eine inten­si­vere Auf­klä­rung über mög­li­che Risi­ken des Kon­sums von Can­na­bi­no­iden. Die Wis­sen­schaft­ler den­ken dabei sowohl an schmerz­the­ra­peu­ti­sche Ein­rich­tun­gen und Arzt­pra­xen, die Can­na­bis ver­schrei­ben, als auch an Schu­len und Jugend­ein­rich­tun­gen. Denn eines ist auf jeden Fall klar: harm­los ist der Kon­sum von Can­na­bis auf kei­nem Fall.

Wei­tere Infor­ma­tio­nen:
Prof. Dr. Maxi­mi­lian Gahr, MA (maxi­mi­lian.gahr@uni-​ulm.de) und Prof. Dr. Car­los Schönfeldt-​Lecuona (car­los.schoen­feldt@uni-​ulm.de), Kli­nik für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie III, Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Ulm


Lite­ra­tur­hin­weis:
Gahr M, Zil­ler J, Kel­ler F, Schönfeldt-​Lecuona C. Incre­a­sing Pro­por­tion of Cannabinoid-​Associated Psy­cho­tic Dis­or­ders: Results of a Single-​Center Ana­ly­sis of Treat­ment Data From 2011 to 2019. J Clin Psy­cho­phar­ma­col. 2020 Nov/Dec;40(6):642-645. doi: 10.1097/JCP.0000000000001278.